Viele Unterstützer haben am Freitag den Baubeginn des Stuttgarter Kinder- und Jugendhospizes gefeiert. Es wird die erste Einrichtung dieser Art im Land sein. Eine betroffene Mutter erzählt über ihren belastenden Alltag und warum sie die Öffnung des Hospizes herbei sehnt.

Stuttgart - Manchmal wundert sich Melanie Meier*, dass sie nicht einfach umkippt vor Erschöpfung. Mehr als drei Stunden schläft sie nicht in der Nacht. Tagsüber versucht die 35-Jährige, ein wenig nachzuholen, wenn eine Kinderkrankenschwester da ist. „Doch ich bin auch dann immer auf Abruf“, sagt die Mutter einer schwerstkranken Tochter. Deren Versorgung ist derart herausfordernd, dass die Pflegekräfte sie regelmäßig wecken, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen.

 

Lara ist vor zweieinhalb Jahren mit einer seltenen Erkrankung auf die Welt gekommen, die den Eltern alles und mehr abverlangt: Sie hat eine genetische Stoffwechselstörung, die das Stammhirn angreift. Lara kann ihre Muskeln nicht bewegen und bekommt oft schmerzhafte Krampfanfälle, vergleichbar mit Geburtswehen. Sie schreit dann intensiv und muss sediert werden. Wenn sie mal lächelt, dann nur unter Medikamenten. Weil sie eine Schluckstörung hat, dauert das Füttern zehn bis 14 Stunden am Tag. Bevor Laras Krankheit vier Monate nach der Geburt diagnostiziert wurde, habe sie einmal 36 Stunden am Stück „wie auf Entzug“ geschrien, erzählt ihre Mutter.

Viele Unterstützer sind zum Spatenstich gekommen

„Ihr Kind wird keine zwei Jahre alt“, haben die Tübinger Ärzte den Eltern damals vorher gesagt. Heute wissen die Meiers, dass die durchschnittliche Lebenserwartung mit diesem Gendefekt bei vier bis siebeneinhalb Jahren liegt. Das älteste Kind, von dem sie erfahren haben, ist jetzt 23. Wie lange wird ihre Tochter leben? Niemand weiß das. Aber Lara wird ziemlich sicher noch als Kind sterben.

„Wenn Kinder sterben, betrifft das die gesamte Familie, man braucht eine Auszeit, um wieder Kraft zu sammeln“, hat der evangelische Stadtdekan Søren Schwesig am Freitag bei den Feierlichkeiten rund um den Spatenstich für das neue Kinder- und Jugendhospiz in der Diemershaldenstraße gesagt. Viele Unterstützer sind gekommen, um diesen Moment mitzuerleben und sich einen ersten Eindruck von der historischen Villa Wittmann zu machen, die sich nun Zug um Zug in eine Oase für Familien mit „lebensverkürzten“ Kindern verwandeln soll. Allein am Vormittag waren es sicherlich 200 Menschen, darunter Ministerialdirektor Jürgen Lämmle, Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP), und Prälat Ulrich Mack. Es falle sehr schwer zu akzeptieren, wenn ausgerechnet Kinder und Jugendliche sterben müssten, sagte Lämmle – und Prälat Mack berichtete von seinem an Krebs verstorbenen Neffen. „Ich habe es selbst erlebt, dieses Schweben zwischen Hoffen und Bangen“, sagte Mack. Die Eltern bräuchten Hilfe in diesem Prozess.

Das Hospiz soll den Familien eine Heimat geben

Die Geschäftsführerin des Bundesverbands Kinderhospiz, Sabine Kraft, findet es „eigentlich eine Schande“, dass es so lange gedauert hat, bis auch Baden-Württemberg ein Kinder- und Jugendhospiz bekommt. Es wird das 15. in ganz Deutschland sein – eines mit „viel Qualität“, wie Sabine Kraft lobte. Sie freut sich schon jetzt darauf, wenn sie den vielen Eltern, die bei ihr verzweifelt anrufen, endlich sagen kann, „um die Ecke in Stuttgart finden Sie einen Platz“. Das vom Evangelischen Kirchenkreis getragene Hospiz soll den Kindern und ihren Eltern „eine Heimat geben“, sagte der Dekan Eckart Schultz-Berg .

Melanie Meier zumindest sehnt das Jahr 2017 schon herbei, wenn das Hospiz öffnen soll und es endlich einen Ort gibt, an dem sie und ihr Mann Kraft tanken können. Bis zu vier Wochen im Jahr können sie dort verbringen. Die Stuttgarterin vermisst den Austausch mit anderen Eltern, die ein ähnliches Schicksal haben und daher auch „nicht gleich in Ohnmacht fallen“, wenn von Luftröhrenschnitten oder Sedierungen die Rede ist. Mütter gesunder Kinder können zur Krabbelgruppe gehen, für pflegende Mütter gibt es so etwas nicht. Über das Internet tauscht man sich vielleicht in Foren von Selbsthilfegruppen aus, aber persönlich? Mit wem kann man schon über Krankheit, Tod oder die für die Meiers wichtige Frage reden, ob man eine Wiederbelebung der Tochter will oder nicht? „Ärzte haben entweder keine Zeit dafür oder halten sich aus rechtlichen Gründen zurück“, ist die Erfahrung der Mutter, die sich oft alleine fühlt. Von dem ehemals sehr großen Freundeskreis seien „vielleicht zwei“ Freunde geblieben. Der Alltag ist einfach zu verschieden. Umso wichtiger sind für sie die Besuche der Helferinnen vom Ambulanten Kinder- und Jugendhospiz alle zwei Wochen. Zu ihnen hat sie Vertrauen.

Einfach mal wieder eine Nacht durchschlafen

In einem stationären Hospiz, sagt Melanie Meier, habe das Personal einfach sehr viel Erfahrung. „Sie können einschätzen, ob sich die Situation gerade zuspitzt“, erklärt sie. Das erleichtere es, abzuschalten – und loszulassen. Melanie Meier erhofft sich von einer Auszeit im stationären Hospiz, dass ihre „Grundbedürfnisse“ gestillt werden: mal wieder eine Nacht durchschlafen zu können, wieder „Luft zum Atmen“ zu bekommen. In den ersten zwei Lebensjahren ihrer Tochter habe sie – eigentlich kaum vorstellbar – tatsächlich nur zwei Mal alleine das Haus verlassen: einmal, um Fläschchen zu kaufen, das andere Mal, weil sie Kleidung für sich benötigte. „Nach zwanzig Minuten kam der Anruf“, sagt sie. Ein Krampfanfall. Sie müsse sofort kommen. Sie fuhr ohne Kleidung zurück.

*Namen der Familie geändert

Fakten:
Im Oktober 2009 hat der Förderverein Hospiz Stuttgart den Beschluss für ein Kinderhospiz gefällt, seit 2011 laufen die Projektplanungen. 2012 wurde die Villa Wittmann gekauft, die nun nach Plänen des Architekten Rolf Mühleisen instandgesetzt und umgebaut wird. Einzugtermin wird voraussichtlich Ende 2017 sein. Acht stationäre Plätze für schwerstkranke Kinder werden entstehen, es ist Platz für die Sitzwache und für die Akademie, die die Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen aus- und weiterbildet. Zudem werden Appartements für Angehörige gebaut, auch im Erdgeschoss der Villa wird es Zimmer für Eltern geben.

Spenden:
8,5 Millionen Euro kosten Umbau und Einrichtung. Vier Millionen Euro sollen über Spenden, Vermächtnisse und Stiftungen zusammenkommen. Der Prälat im Ruhestand Martin Klumpp rief beim Spatenstich zu Spenden auf und plädierte zudem an die Stadt, das Hospiz finanziell zu fördern. Bisher sei „noch nichts, rein gar nichts vorgesehen. Wenn es dabei bliebe, wäre das ganz traurig für die Stadt“, sagte er. Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) sagte in ihrem Grußwort, die Stadt tue, was sie tun könne. Angesprochen auf konkrete finanzielle Unterstützung verwies sie gegenüber der StZ auf die laufenden Haushaltsberatungen. Der Gemeinderat entscheide. Wer das Kinderhospiz mit einer Spende unterstützen will, findet im Internet unter www.hospiz-stuttgart.de die Kontonummer.