Der jugendverliebte Regisseur Armin Petras brachte am Freitag im Nord die Theaterfassung von Witzels preisgekröntem Roman auf die Bühne. Zu erspüren ist das Lebensgefühl junger Leute in der westdeutschen Nachkriegszeit.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Eine Verfolgungsjagd. Hysterisches Umsichblicken, Geschwafel über Luftgewehre und Wasserpistolen in Handschuhfächern: „Die Bullen mit ihrem voll besetzten Mannschaftswagen VW T2 fangen an zu ballern!“ Abends in den Fernsehnachrichten Phantombilder: bange Blicke der Schauspieler. Doch ach. Sie sehen nicht so aus wie sie, der Typ hat längere Haare. Tilman Strauß fasst sich halb erleichtert, halb enttäuscht ans kurze Haar. Die Frau hat einen schmaleren Mund; Jule Böwe kneift ihre Lippen zusammen. Aber ihre Gruppe hat denselben Namen, den sie sich geben wollten, wenn sie sich darauf einigen könnten: RAF.

 

Und die Zuschauer? Sind ihrem eigenen Kopfkino auf den Leim gegangen. Zwar heißen die Flüchtenden nicht Andreas und Gudrun, sondern Claudia und Bernd, doch das kollektive Gedächtnis in Sachen Terror in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert eben so. Junge Leute, Fluchtautos, Waffen, „Bullen“: Da denkt man eher an die Rote-Armee-Fraktion als an Teenies in der hessischen Provinz.

So verspielt beginnt Frank Witzels Roman, der 2015 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Und so beginnt auch Armin Petras’ Inszenierung der dramatisierten Fassung. Uraufführung war im April an der Berliner Schaubühne, die Stuttgarter Premiere fand am Freitag im Nord statt.

Uraufführung war im April in Berlin

Ein fabelhafter Start, weil er juvenile Abenteuerlust, das Revoltieren gegen Autoritäten, die Hysterisierung einer Generation, die in Systemzwängen gefangen war, rasant inszeniert und ironisiert. Denn der Ich-Erzähler und seine Freunde Claudia und Bernd sind Zuspätgeborene: Kinder in der Zeit, als die Studentenunruhen beginnen (die im Nord auf Videobildern zu sehen sind) und junge Erwachsene sich vom Nachkriegsmief zu befreien versuchen. Gudrun Ensslin und Andreas Baader kommen hier deshalb nur als Spielfiguren in der Ritterburg des Erzählers vor.

Der Zuschauer, der den 800-Seiten-Roman gelesen hat, weiß, dass dieser nicht nacherzählt, wie versucht wurde, das kollektive Schweigen der Tätergeneration zu brechen. Und das kann auch der unbelesene Zuschauer ahnen, schon bevor der zweieinhalbstündige Abend beginnt. Das Bühnenbild von Katrin Brack besteht aus Schaufensterpuppen. Ein klares Statement: Denn hätte man sich vorstellen können, dass Che Guevara auf einer Flucht nichts Besseres zu tun hat, als Klamotten kaufen zu gehen? Eben.

Armin Petras und Katrin Brack erinnern damit kritisch an Protagonisten der RAF wie Gudrun Ensslin, deren Terroristinnenkarriere geradezu kapitalismushörig mit der Festnahme in einer Hamburger Boutique endete. Und das, nachdem sie mit konsumverachtender Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus begonnen hatte.

Ezählt wird aus der Perspektive eines verhaltensauffälligen Teenagers

Ein größeres Puppenkind trägt ein wie mit Filzstift aufgemaltes Anarchozeichen auf der hinteren Gesäßtasche seiner Jeans. Das hätte die Hose des Protagonisten in Frank Witzels Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ sein können. Die Zeit kurz vor der tatsächlichen Gründung der RAF wird aus der Perspektive eines verhaltensauffälligen Pubertierenden erzählt. Er blickt auf die Zeit durch eine schiefe Brille, deren Gläser gesprungen zu sein scheinen.

Um auf 800 Seiten zu kommen, reicherte Witzel den Text mit Abschweifungen an. Mit vielerlei Zeitsprüngen, Genrespielen, Katholizismus und Popmusik, Strumpfbändern und Caritas-Frauen. Realität, Fiktion, Wahn, Wirklichkeit: Genauso munter geht es auf der Bühne durcheinander, denn der Roman entpuppt sich als idealer Stoff für einen Regisseur, der es auch nicht so mit dem linearen Erzählen hat und der sich in seiner Textfassung auf Liebesnöte der Protagonisten konzentriert, auf BRD-DDR-Fantastereien und surreal anmutende Szenen zwischen Beichtstuhl und Parteitag.

Das Stuttgarter Publikum ist mit Geschichten über Jugend, Politik und Paranoia in der DDR (Fritz Katers „Zeit zu lieben zeit zu sterben“ und „Buch 5“) schon gut versorgt, in dieser Saison kommt die BRD hinzu mit Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“ und jetzt mit Witzels „Die Erfindung der RAF . . .“.

Die Stuttgarter Band Die Nerven sitzt mittendrin

Ein bisschen jugendvernarrt darf man das finden, dennoch oder genau deshalb entzieht man sich nicht dem Charme der Verwandlungs- und Improvisationslust des Ensembles. Zudem ist der Abend auch musikalisch ein starkes Stück. Max Rieger, Kevin Kuhn und Julian Knoth, die drei jungen Musiker der seit einiger Zeit überregional gehypten Stuttgarter Band Die Nerven sitzen inmitten des Geschehens. Sie blicken, wenn sie gerade nicht dran sind und fröhlich das Schlagzeug malträtieren und Knoth headbangend die Rauschgoldengelslocken schüttelt, ähnlich unbeteiligt aufs Geschehen wie die Puppen. Manchmal müssen sie dann doch ein bisschen grinsen; etwa wenn Julischka Eichel die fanatisch überkandidelte DDR-Genossin mimt, wenn Paul Grill einen Schlagertext als Rap interpretiert. Erst recht, wenn Peter René Lüdicke sich als Beichtvater auf einen Lautsprecher setzt, ein Sieb neben sein rechtes Ohr hält und ein Würstchen nach dem anderen aus seiner Hemdtasche zieht und genüsslich verputzt. Tilman Strauß sitzt eng bei ihm und beichtet Sünden wie die, einen Teebeutel nicht fachgerecht zerlegt in Bio- und Papiertonne entsorgt, sondern in die Restmülltonne gepfeffert zu haben. Die Nerven sorgen aber auch für gehörig brachiale, wütende, lauernde Begleitmusik zu all dem Glanz und Elend des Verliebtseins und Irrsinns.

Armin Petras misstraut wie stets großen Parolen und politischen Wahrheitsansprüchen und ironisiert sie. Aber an diesem Abend gelingt es ihm, emotionale Nöte und gesellschaftliche Zwänge eindrücklich zu inszenieren. Das wiederum ist etwas, das bei aller Jugendnostalgie des Regisseurs Menschen in jedem Alter etwas angehen kann.