Alle reden über den Diesel – und vielfach doch aneinander vorbei, findet Jan Sellner. Es fehlt an Moderatoren und an der Bereitschaft, sich in andere reinzuversetzen.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Wir alle – oder jedenfalls die meisten von uns – sprechen Deutsch. Das heißt allerdings nicht, dass wir uns auch verstehen. Vielmehr fällt auf, dass wir es oft nicht tun – und zwar häufig dann nicht, wenn wir uns in Diskussionen gegenüberstehen. Der Grund ist: Wir reden erstaunlich oft aneinander vorbei. Damit sind nicht Missverständnisse gemeint oder Irrtümer, die sich aus Unachtsamkeit erklären. Die Form des Nicht-Verstehens, um die es hier geht, hat andere Ursachen. Sie rührt daher, dass sich verschiedene Menschen mit verschiedenen Prägungen auf verschiedenen Ebenen unterhalten und es vielen schwerfällt, sich in die Position des anderen zu versetzen. Das ist übrigens kein akademisches Problem, sondern ein sehr praktisches. Unser Alltag, unser Leben sind davon geprägt.

 

Die aktuelle „Dieselkrise“ oder der „Dieselskandal“ – bei der Wahl der Begriffe beginnen die Verständigungsprobleme bereits – ist dafür ein gutes Beispiel. Vertreter der Automobilindustrie argumentieren anders als Außenstehende – aus Selbstschutz, vor allem aber aus dem eigenen, global gespannten Selbstverständnis heraus.

Man sieht, wenn Menschen aneinander vorbeireden

Ihre Sprecher stehen auf dem Standpunkt, prinzipiell richtig gehandelt zu haben, indem die gesetzlichen Vorgaben am Prüfstand eingehalten wurden. Vom Straßenbetrieb war nicht die Rede. Dafür ist aus Sicht der Autoindustrie der Gesetzgeber verantwortlich, zumal Politikern diese Diskrepanz seit langem bekannt war. Die jüngst zugesagte Dieselnachrüstung betrachten die Automobilhersteller deshalb als reines Entgegenkommen.

Viele Bürger haben einen anderen Blick auf die Vorgänge rund um den Diesel. Sie gehen selbstverständlich davon aus, dass die Ergebnisse des Prüfstands auch im Straßenbetrieb gelten. Ein Auto, das im Test sauber ist, sollte das auch in der Praxis sein. Das legt der gesunde Menschenverstand nahe – zu dem jedoch immer angemerkt werden muss, was Albert Einstein feststellte: dass er die Summe aller bis zum 18. Lebensjahr angesammelten Vorurteile ist. So oder so. Das streng formalistische Denken der Automobilindustrie prallt auf die empörte Haltung der Öffentlichkeit. Die einen führen den Buchstaben des Gesetzes an, die anderen die Moral. Und da haben die Gesundheitsexperten noch gar nicht mitgeredet und die Juristen und die Journalisten und viele anderen Beteiligte, die alle Deutsch, aber doch nicht dieselbe Sprache sprechen. Wenn Menschen aneinander vorbeireden, kann man das manchmal sogar sehen. Wer die Bilder vom Autogipfel aus der vergangenen Woche im Kopf hat – auf der einen Seite die Autochefs, auf der anderen die Vertreter der Regierung – dürfte dem zustimmen.

Auf unterschiedlichsten Kanälen auf Sendung

Das Phänomen der babylonischen Sprachverwirrung innerhalb des eigenen Sprachraums zeigt sich bei vielen Themen. Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht zum Beispiel oder um den Wirtschaftsstandort Deutschland oder um Europa. Jeder spricht anders: hier die einnehmende Sprache der Wahlkämpfer, dort die aggressive Polemik der Provokateure. Es gibt die Fachsimpelei der Experten und den Frageton der Laien. Es gibt das Kauderwelsch der Behörden und den Klartext der Stammtische, das Klappern der Verkäufer und das Plappern der Besserwisser. Es gibt die kühlen Analysten und die emotionalen Debattierer. Nicht zu vergessen: der sprichwörtliche Mann auf der Straße, dessen Art zu denken und zu sprechen alle zu kennen glauben, woran große Zweifel bestehen.

Wir leben in einer freien Gesellschaft, deren Mitglieder auf unterschiedlichsten Kanälen auf Sendung sind. Das ist eine Errungenschaft. Woran es allerdings fehlt, sind Empfänger, Übersetzer, Moderatoren. Menschen, die zuhören und Gesprächsfäden knüpfen. Sie sind Teil der Antwort auf die oft gestellte Frage, was das Gemeinwesen zusammenhält.