Im Klinikum in Ruit sollen Opfer von Sexualdelikten künftig Spuren anzeigenunabhängig sichern lassen können. Initiiert hat das Pilotprojekt unter anderem der Verein Wildwasser. Dort berichtet man von steigendem Beratungsbedarf auch auf den Fildern.

Filder/Esslingen - Für Opfer von Sexualdelikten ist es eine gewaltige Belastung. Im Moment der Traumatisierung und des Schocks müssen sie zügig Entscheidungen treffen und funktionieren. Polizei, Anzeige, Befragung, dann wird eine rechtsmedizinische Untersuchung angeordnet. Wunden und Hämatome dokumentieren, DNA-Spuren sichern, Blut abnehmen, um etwa K.-o.-Tropfen nachzuweisen, die Pille danach verabreichen. Vielen ist das alles auf einmal aber zu viel. Sie entscheiden sich in der Ausnahmesituation gegen eine Anzeige, insbesondere auch dann, wenn der Partner der Täter ist.

 

Im Kreis Esslingen soll in Kürze ein Pilotprojekt starten, das Vergewaltigungsopfern die Situation erleichtern soll. In der Klinik in Ostfildern-Ruit wird die anzeigenunabhängige Spurensicherung eingeführt. Sie gibt betroffenen Personen die Möglichkeit, Beweise dokumentieren zu lassen und sich dann erst mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen und zu entscheiden, ob sie gegen den Täter vorgehen wollen, und das „nach einem Standard, der nachher auch gerichtsfest ist“, erklärt Martina Huck. Sie ist die Geschäftsführerin des Esslinger Vereins Wildwasser. Er berät Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, die sexualisierte Gewalt erleben oder erlebt haben. Martina Huck hat jüngst im Verwaltungsausschuss in Filderstadt über ihre Arbeit berichtet.

Es kommen mehr Fälle ans Licht

Der Beratungsbedarf wächst. 2019 bearbeitete Wildwasser 191 Fälle, „das ist wieder ein neuer Höchststand“, sagt Martina Huck. Fünf Jahre zuvor waren es 140 gewesen. Die Steigerung hängt nach ihrer Einschätzung damit zusammen, „dass das Thema so präsent ist. Es ist klarer, dass es diese Gewaltform gibt und dass man mehr hingucken muss“. Sprich: Es kommen mehr Fälle ans Licht.

Auch Opfer von den Fildern lassen sich helfen. 2017 zählte Wildwasser zwei Betroffene aus Filderstadt mit 28 Beratungskontakten, 2018 waren es drei, die 27-mal Kontakt hatten. 2019 hatten vier Betroffene 33 Beratungen. Aus Leinfelden-Echterdingen waren es im selben Zeitraum zwei bis drei Personen mit bis zu 20 Kontakten. Nicht enthalten sind anonyme Anfragen.

Der Verein Wildwasser ist es auch, der die Einrichtung der vertraulichen Spurensicherung in einer Projektgruppe vorangetrieben hat. Das Ruiter Krankenhaus erhält hierzu eine spezielle Ausrüstung, außerdem Infomaterial, „damit die psychosoziale Anschlussversorgung gewährleistet ist“, erklärt Martina Huck. Sie spricht von einer Probelaufzeit von zunächst einem Jahr.

Gewaltambulanz in Stuttgart?

Der Kreis Esslingen nimmt eine Vorreiterrolle ein. „Derzeit gibt es in Baden-Württemberg nur die Gewaltambulanz Heidelberg, welche jährlich mit 150 000 Euro durch das Land gefördert wird. Dort erhalten Gewaltopfer rund um die Uhr eine umgehende rechtsmedizinische Untersuchung, eine gerichtsfeste Dokumentation von Verletzungen und eine Spurensicherung sowie weitere Hilfeleistungen bei Bedarf“, teilt Markus Jox, ein Sprecher des Sozialministeriums, mit.

Doch es soll sich etwas tun, denn mit dem Masernschutzgesetz wurde der Anspruch gesetzlich Versicherter bei einer Krankenbehandlung ausgeweitet auf „Leistungen zur vertraulichen Spurensicherung am Körper, einschließlich der erforderlichen Dokumentation sowie Laboruntersuchungen und einer ordnungsgemäßen Aufbewahrung der sichergestellten Befunde, bei Hinweisen auf drittverursachte Gesundheitsschäden, die Folge (...) eines sexuellen Übergriffs (...) sein können“. Derzeit wird geprüft, wie diese Art der Beweissicherung ausgebaut werden kann. „Hierbei wird auch die Möglichkeit der Einrichtung einer Gewaltambulanz in Stuttgart evaluiert“, so Markus Jox.

Die Ruiter Ärzte wollen mit der Heidelberger Gewaltambulanz kooperieren, dort soll das Material ein Jahr anonymisiert aufbewahrt werden; eine Vorgehensweise, die das Rems-Murr-Klinikum in Winnenden bereits seit einem Jahr praktiziert. Insgesamt 20 Frauen wurden dort seit dem Projektstart untersucht. Zwei schalteten nachträglich die Polizei ein. Um im Kreis Esslingen loslegen zu können, sind laut Martina Huck noch einige Abstimmungen nötig. Sobald die letzten Steine aus dem Weg geräumt seien, solle das neue Angebot mit einer großen Kampagne beworben werden.