Bisher stand das Jahr 2050 für die Netto-Null beim Kohlendioxidausstoß. Viele Fraktionen drängen seit Monaten auf eine Revision dieses Plans. Nun reagiert OB Frank Nopper.

Stuttgart - Der neue Bundesklimaminister Robert Habeck (Grüne) will die Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels verdreifachen, um bis 2045 die Klimaneutralität zu erreichen. Die Landeshauptstadt zeigt sich bisher weniger ambitioniert. 2050 lautet das Ziel. Im Gemeinderat drängen verschiedene Fraktionen seit Monaten darauf, mehr Ehrgeiz zu zeigen. OB Frank Nopper (CDU), der die Diskussion im vergangen Jahr vertagt hatte, reagiert jetzt. Am kommenden Donnerstag soll der Rat in einer Generaldebatte den offiziellen Prüfauftrag erteilten, die Klimaneutralität 15 Jahre früher zu erreichen. Für das neue Ziel 2035 ist eine breite Mehrheit absehbar.

 

Nopper (CDU) will das neue Zieljahr allerdings erst vor der Sommerpause final beschließen lassen. Bis dahin muss geklärt sein, dass der neue Fahrplan „realistisch, sozial und wirtschaftsverträglich“ ist und „konkrete Maßnahmenvorschläge für die einzelnen Emmissionsquellen“ enthält, heißt es in der Vorlage. Helfen soll dabei das Beratungsunternehmen McKinsey. Es hat die Studie Net-zero Deutschland 2045 gefertigt und das Thema europaweit betrachtet. Von den externen Beratern wird erwartet, dass sie Wegmarken bis 2035 definieren. McKinsey soll in seiner Analyse einen Überblick über die großen Themen in einzelnen Sektoren geben und nach einer Bestandsaufnahme für Stuttgart konkrete Maßnahmen benennen. Weil das Unternehmen zum Thema Dekarbonisierung als firm gilt und über eine Art Werkzeugkasten mit rund 650 definierten Maßnahmen verfügt – und die Stadt mit ihrem jährlichen Energie- und Klimaschutzbericht vorgearbeitet hat –, sollen schon im März 2022 erste Ergebnisse vorliegen.

McKinsey-Gutachten kommt wichtige Rolle zu

Bis Ende Mai soll die Arbeit, für die maximal 160 000 Euro fließen, weitgehend abgeschlossen sein, heißt es in der Leistungsbeschreibung für McKinsey. Das ist auch nötig, denn im Juni oder Juli soll die erste Sitzung des Bürgerrates Klima mit rund 60 Stuttgarterinnen und Stuttgarter anberaumt werden. Das wird eine Art Lackmustest. Werden die Bürger die neue Agenda als zumutbar empfinden oder als Zumutung? Die Bürger sollen in ihren Handlungsoptionen frei sein und bei Zweifeln Fachvorträge von Experten einfordern können. Am Ende stünde die Fortschreibung des Klima-Aktionsplans, den Noppers Vorgänger, OB Fritz Kuhn (Grüne) aufgelegt und mit 200 Millionen Euro Fördermittel auch für Privathaushalte ausgestattet hat Er läuft Ende 2023 aus. An diese Programm, heiß es jetzt, wolle man „nahtlos anschließen“.

Im Gemeinderat sind sich mittlerweile – bis auf die AfD – alle Fraktionen einig, dass das ursprünglich gesetzte Ziel, erst 2050 klimaneutral zu sein, bei weitem nicht ambitioniert genug ist. Sogar die CDU, die bisher einer höhere Schlagzahl bei der Co2-Einsparung skeptisch gegenüber stand, kann sich inzwischen 2035 als Zielmarke vorstellen. Fraktionschef Alexander Kotz möchte allerdings erst das McKinsey-Gutachten abwarten, um die Auswirkungen auf die Stadt und die benötigten finanziellen Mittel besser einschätzen zu können. Auch die Grünen, die bisher mit der Jahreszahl 2038 geliebäugelt und damit immerhin zwei Jahre unter der Zielvorgabe der grün-geführten Landesregierung gelegen hatten, sehen angesichts erster Beschlüsse der neuen Bundesregierung zum vorgezogenen Kohleausstieg und der Absichtserklärungen der ortsansässigen Automobilhersteller zum früheren Erreichen der Klimaneutralität nun Spielraum für ehrgeizigere Ziele. „Ein paar Parameter haben sich ja verändert“, sagt ihr Fraktionssprecher Andreas Winter, da könne auch Stuttgart eine Schippe drauflegen.

Linksbündnis könnte auf Zieljahr 2035 einschwenken

„2035 ist ein gutes Datum“, sagt Lucia Schanbacher, klimapolitische Sprecherin der SPD. Auch die Genossen wollen, dass die McKinsey-Studie den Weg zum Erreichen des Klimaneutralitätsziels mit Daten und Fakten unterfüttert. Klar sei, dass man die Anstrengungen jährlich bilanzieren und gegebenenfalls nachsteuern müsse. FDP und Puls-Fraktionsgemeinschaft können sich ebenfalls für die Jahreszahl 2035 erwärmen, ein früheres Datum sei „unrealistisch“, heißt es. Und der Fraktionschef der Freien Wähler, Konrad Zaiß, sagt: „Je früher, desto besser. Aber es muss machbar sein und wir müssen die Bürger mitnehmen.“ Das Linksbündnis will eigentlich schon 2030 soweit sein. „Wenn unser Antrag aber abgelehnt wird, wären wir auch offen für 2035“, so Fraktionssprecher Hannes Rockenbauch. Für AfD-Sprecher Christian Köhler ist das anvisierte Zeitziel „deutlich zu ambitioniert“, man werde daher einem Vorziehen auf 2035 nicht zustimmen.

Privater Sektor entscheidend für die Klimawende

Quer durch die Fraktionen ist man sich aber auch der Probleme bewusst, die ein Vorziehen des Zieldatums mit sich bringt. Das Amt für Umweltschutz hat schon im vergangenen Jahr vorgerechnet, dass bis 2035 60 Prozent mehr Kohlendioxid eingespart werden müsse als nach dem alten, auf dem Zieljahr 2050 basierenden Zeitplan. Zwar gibt die Stadt bei ihren eigenen Liegenschaften Gas bei der energetischen Sanierung und Bestückung mit Solarpanels; doch die städtischen Gebäude machen nur etwa vier Prozent des gesamtstädtischen Energiehaushalts aus. „Das große Thema ist der Privatsektor, da müssen wir fördern, motivieren und überzeugen“, sagt SPD-Stadträtin Schanbacher. FDP-Fraktionschef Matthias Oechsner regt eine breite Aufklärungskampagne über die finanziellen Vorteile für private Hausbesitzer an, die auf erneuerbare Energien umsteigen: „Da muss Zug rein!“

Und der Rathauschef? Zunächst sah es so aus, als ob OB Nopper ohne eigene Haltung in die Generaldebatte am Donnerstag gehen würde. Nun gibt es aber doch eine von ihm gezeichnete Beschlussvorlage, die auf eine Vertagung der Entscheidung bis zur Sommerpause hinausläuft.