Wohnheime, Beratungsstellen, die Essensausgabe der Tafeln: an einem Tag im Jahr zeigen Obdachlose in Ulm, wie sie die Stadt erleben.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ulm - Mindestens einmal am Tag kommen die Wohnsitzlosen von Ulm dahin, wo die Reichsten der Stadt den freien Blick auf das Münster genießen. Das ist die Halbhöhe des Michelsbergs mit seiner Villenpracht. Die Caritas hat es selbst im Immobilienpreiswahnsinn der vergangenen Jahre geschafft, ihr Gebäude zu halten und nicht ausziehen zu müssen. Hier, im Aufnahmehaus für Wohnsitzlose, Michelbergstraße 5, wo auch die Tagessätze für Hartz-IV-Bezieher ausgezahlt werden (13,40 Euro), starten Lemmy und Jürgen ihre Stadtführung der besonderen Art.

 

Lemmy und seine Hündin Picco gehören zum Ulmer Stadtbild, man trifft sie täglich in der Platzgasse nahe dem Münster, wo der 49-Jährige die Straßenzeitung „Trottwar“ verkauft. Seitdem er das macht, ist er weg von der „Platte“, hat das jahrelange Umherziehen als Berber hinter sich. Aber er weiß noch, wie es gewesen ist, als er von Ludwigsburg an die Donau gekommen ist: „Schwierig zu kämpfen.“

Darum kann er sich bestens in die Lage der rund 400 Obdachlosen versetzen, die übers Jahr in der Stadt gezählt werden. Auch in Ulm gibt es Leute, die der Meinung sind, es gebe in Deutschland keine Armut, und falls doch, seien die Betroffenen selbst schuld. Lemmy hat es mit der Bürgerlichkeit versucht. Er war in seiner Heimatstadt Pfronten Tankwart und Skilehrer. „Aber jeden Tag die strukturierten acht Stunden, das Monotone, das hab ich nie gepackt“, erzählt er.

Graue Gebäude ohne Münsterblick

Die drei Stunden als Stadtführer heute gefallen ihm. Es geht in das DRK-Übernachtungsheim, Frauenstraße 125, ein grauer Bau am Rand der Innenstadt mit Blick auf andere graue Bauten. Obdachlosigkeit, das sieht man dort, ist eine Männerdomäne. Von 30 Schlafplätzen hier sind vier für Frauen reserviert. Die Leiterin öffnet eines der Elfbettzimmer. Sie macht vorsorglich das Fenster weit auf. Eine Gruppendusche, eine Küche, in der Ehrenamtliche ein Abendessen zum Preis von einem Euro zubereiten, mehr Pracht gibt es nicht. Die Stadt gibt Zuschüsse, aber ohne Spenden und freiwillige Helfer ginge es nicht.

Sein Weg in den „Kreislauf“ der Obdachlosigkeit sei klassisch gewesen, erzählt Jürgen, der andere Führer, auf dem Weg zu den Räumen der Mobilen Jugendarbeit in der Bockgasse 16, noch rasch vorbei an der Ulmer Tafel. Frauen mit Kindern wenden ihre Gesichter rasch ab, als die Besuchergruppe in den Hof tritt. „Arbeitsverlust, Partnerverlust, dann gibt man die Wohnung auf.“ In den Bettenlagern der Wohnheime hält es Jürgen nicht aus, er lebt in einem Wohnmobil, das er gelegentlich umparkt. „Ich habe mich vom ganzen System abgeschottet und versuche, mich so durchzuschlagen.“ Seine beiden Kinder seien erwachsen, sie hätten sich gut entwickelt. Das mache ihm sein Dasein leichter.

Streetworker gucken nach Jugendlichen

Das „Momo“ in der Bockgasse ist Ruhe- und Beratungsort für Jugendliche von 14 bis 26 Jahren und Startpunkt zweier Streetworker, die täglich den Vorplatz des Hauptbahnhofs, die Donauwiese oder den Alten Friedhof abstreifen, in der Hoffnung, mit Rebellen oder Verlorenen ins Gespräch zu kommen, die kein Verein je erreicht hat und auch kein Jugendhaus. Sie wollen diese Jugendlichen „animieren, ihren Lebensentwurf zu überdenken und notfalls zu verändern“, sagt der Leiter. Er trägt Zopf und schwarze Klamotten. In letzter Zeit habe die Stadt beliebte Treffpunkte von Jugendlichen abgeräumt, zum Beispiel Sitzrondelle in der Fußgängerzone abgebaut oder Steinstufen am Flüsschen Blau beim Kino Xinedome zum Privatgelände der Parkhausgesellschaft umgewidmet. Die Folge: „Wer solche Treffpunkte zurückschraubt, erreicht nur eine Vertreibung“, sagt der Leiter des Momo.

Die Stadt räumt immer wieder Treffpunkte ab

Immerhin, am unteren Kuhberg in Ulm hält die Stadt acht Schlafplätze für obdachlose Jugendliche vor. Eine Aufenthaltsbefristung gibt es dort nicht, dafür das Privileg einer festen Wohnadresse. Große Lehren will das Momo nicht verbreiten, aber diese Lektion eben doch: ohne Wohnsitz keine neue eigene Wohnung, keine Arbeitsstelle, keinen Ausweg aus einem Alltagsleben, das nur vermeintlich frei ist.

Einmal jährlich organisiert die evangelische Kirche in Ulm diese spezielle Stadtführung. Für den Pfarrer Andreas Wündisch geht es um einen Beitrag zur öffentlichen Bildung. „Wir leben in unserer Blase nebeneinander her, teilweise mit einer aggressiven Grundeinstellung.“ Er ist überzeugt: „Friede entsteht, wenn man miteinander redet.“

Eine Spende zum Schluss der Tour

Die Tour ist rum, Lemmy und Jürgen danken vor dem Auseinandergehen recht freundlich. In einer Sammelbüchse verschwinden ein paar Geldscheine. Ganze sieben Teilnehmer haben die Stadttour in diesem Jahr mitgemacht. Gemessen an früheren Exkursionen ein ordentlicher Erfolg, findet Pfarrer Wündisch.