Zwei Studenten haben am Österreichischen Platz ein öffentliches Tauschregal gebaut. Nun ist das temporäre Projekt zu Ende – die Beteiligten ziehen Bilanz. Die Stadt Stuttgart überlegt sogar, das Projekt weiterzuentwickeln.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Wem gehört die Stadt? Diese Frage hat sich die Initiative Stadtlücken zu Beginn ihres Engagements unter der Paulinenbrücke am Österreichischen Platz gestellt. Bisher haben sie versucht, einen hässlichen Ort für die Menschen zugänglich zu machen – mit Chorproben, Kletterwand, Parties, Filmabenden oder Tischtennis.

 

Die beiden Architekturstudenten Ali Hajinaghiyoun(30) und Felix Haußmann (27) sind dort noch einen Schritt weitergegangen. Ihre Idee ist radikaler. Denn dort, wo sich bisher am Abend eine junge Städter traf, war lange vorher ein Obdachlosen- und Trinkertreff. „Wir wollten ein Stadtmöbel bauen, das verschiedene gesellschaftliche Gruppen an einem Ort zusammenbringt“, sagt Hajinaghiyoun, der über das Experiment seine Masterarbeit schreibt. „Und wir wollten auf die Not obdachloser und drogenabhängiger Menschen aufmerksam machen“, ergänzt Felix Haußmann. „Es ist ihr Wohnzimmer hier.“

Wem gehört die Stadt? Studenten führen Experiment durch

„Stadtregal“ haben sie ihre Idee genannt. Ein paar Wochen stand dieses am Österreichischen Platz. Das Regal bot eine Küchenzeile, ein Fach für vor der Tonne gerettete Lebensmittel, einen Medizinschrank, ein Leihfahrrad und Schlafplätze. Im Rahmen eines Seminars hatten die beiden Studenten sich mit „Provisorischer Architektur“ beschäftigt und dabei das Tauschregal entworfen. Für ihre Idee haben sie 8000 Euro Fördergeld aus den Mitteln des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur der Uni Stuttgart gewonnen. Wem gehört die Stadt? Für die Studenten war klar: Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben oder obdachlos sind, haben auch ein Recht auf Stadt. Für die Umsetzung ihres Projekte haben sie sich zivilgesellschaftliche Partner in der Stadt gesucht wie den Drogenberatungsverein Release, die Caritas, die Kirche St. Maria, das freie Lastenrad, Foodsharing Stuttgart und Common Kitchens.

Oft haben die Studenten 24 Stunden am Österreichischen Platz verbracht und ihre Beobachtungen dokumentiert. Ihre Erfahrung? „Viele Obdachlosen haben das Stadtregal genutzt“, sagt Hajinaghiyoun. Nach vier Wochen haben die beiden bei einer Podiumsdiskussion vor Ort mit beteiligten Akteuren Bilanz gezogen. „An sich hat es gut funktioniert“, sagt Haußmann. Es sei aber größtenteils eher eine „Co-Existenz“ gewesen. „In der Küche hat es sich am ehesten vermischt.“ Jeden Morgen habe einer aus der „Szene“ dort Kaffee gekocht, Common Kitchen habe einmal die Woche für eine ganze Gruppe abends gekocht und die Mitarbeiter der Mozzarella Bar hätten gelegentlich Frühstück gebracht; der Schlafplatz sei täglich verwendet worden, sagt Haußmann.

Das Tauschregal birgt auch Konflikte

Das Experiment verlief nicht ohne Reibung: „Die Konflikte sind deutlich sichtbar gewesen“, gesteht Hajinaghiyoun. Trotzdem hätten die Polizeieinsätze in der Zeit abgenommen. Viele Anwesende aus der Szene beklagen die wachsende Gentrifizierung entlang der Tübinger Straße und rund um das Gerber, so sagen sie bei der Diskussionsrunde. Raiko Grieb, Bezirksvorsteher im Süden, wünscht eine „gute soziale Durchmischung. Aber es darf weder in die eine noch in die andere Richtung kippen.“ Wem gehört die Stadt? „Nicht dem Gerber, nicht dem Caleido, nicht St. Maria und nicht mir, sondern allen.“ Veronika Kienzle sieht den Ort als „Erfolgsmodell“. „Alle konnten einen Perspektivwechsel einnehmen“, sagt die Bezirksvorsteherin von Mitte. Es gehe darum, sich nicht nur gegenseitig zu dulden, sondern auch in Kontakt zu kommen, sich zu respektieren und die anderen auszuhalten. Ihr Fazit: „Das Stadtregal ist der Höhepunkt dieser Stadtentwicklung.“

Stadt Stuttgart überlegt, die Idee weiterzuführen

Für Pastoralreferent Andreas Hofstetter-Straka von der Kirchengemeinde St. Maria ist das Stadtregal eine „geniale und wunderbare Geschichte, weil sich Geschichten drum herum abspielen.“ Es sei ein Möbel, das mehr als nur ein Möbel ist. „Menschen treffen sich dort und dann gibt es auch Konflikte. Und mit denen müssen wir umgehen“, so Hofstetter-Straka: „Wir alle lebten viel zu sehr in unserer eigenen Blase. Miteinander umgehen ist aber eben auch anstrengend.“

Diese Idee war aber nicht nur für den Moment konzipiert: Die Stadt Stuttgart will mit anderen Trägern die Idee weiterentwickeln, sagt Felix Haußmann.