Der Schauspieler Kai Wiesinger und die Filmregisseurin Franziska Stünkel zeigen ihre Fotoarbeiten. Sie bieten einen großen Interpretationsspielraum.

Sindelfingen - Die erste, noch erhaltene Fotografie des Franzosen Nicéphore Nièpce stammt aus dem Jahr 1826 und zeigt den Blick aus seinem Arbeitszimmer. Sie ist leicht verschwommen, zu erahnen sind Häuserfassaden, ein Turm und Dächer. Der subjektiven Wahrnehmung

 

sind Tür und Tor geöffnet. Ähnlich verhalte es sich mit den Werken der Filmregisseurin und Fotokünstlerin Franziska Stünkel und des Schauspielers Kai Wiesinger, erklärte Alexander Tolnay, der ehemalige Direktor des Neuen Berliner Kunstvereins, in seiner Eröffnungsrede in der städtischen Galerie Sindelfingen. Auf den „point de vue“, komme es an, wie Nièpce seinen Schnappschuss damals nannte, auf den Blickwinkel und eben auf die jeweils eigene Sicht der Dinge. Denn verspiegelt, verzerrt, fragmentiert sind auch die Fotoarbeiten von Kai Wiesinger und Franziska Stünkel. Sie lassen einen großen Interpretationsspielraum – und geben Rätsel auf.

Triptychon mit einer gekreuzigten Frau

Eines von Kai Wiesingers Lieblingswerken ist das fotografische Triptychon einer gekreuzigten Frau, die nur schemenhaft zu erkennen ist. Es fließt Blut, die Geschundene schreit. Wiesinger bringt unfassbares Leiden zum Ausdruck, das Entsetzen und Aufbegehren gegen die Marter – durch die verschwommene Darstellung wird es umso stärker. „Mir geht es darum Fragen zu stellen“, sagt der 48 Jahre alte Mime, der zuletzt in dem Doku-Drama „Der Rücktritt“ in die Rolle des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff schlüpfte. Welche Fragen er konkret meint, lässt er lieber offen. Nein, religiös sei er nicht, der Kirche stehe er eher kritisch gegenüber.

Franziska Stünkel wiederum, die als Filmemacherin an namhaften Internationalen Filmfestivals unter anderem in Cannes, Shanghai, Kalkutta und New York teilnahm, hat auf ihren Reisen spannende Momentaufnahmen geschaffen. So spiegelt sich etwa eine vornehme Restaurantausstattung in Weiß in einem Hafenbild, ein Zuginterieur erhellt sie mit Lichtern einer nächtlichen Szenerie oder eine wartende Menschenmenge spiegelt sie an den Rand eines leeren Flughafenterminals.

Unschärfe zwingt zu einer tiefer gehenden Auseinandersetzung

Beide Künstler haben einiges gemeinsam. Sie sind nicht nur Filmschaffende mit dem Blick für das Wesentliche und das scheinbar Unwesentliche. Sie teilen auch die Betrachtungsweise darüber, was ein fotografisches Bild leisten kann: den Blick dahinter, in das Innere der Protagonisten. Und die Aufhebung von Raum und Zeit. Als Fotografen dringen sie in das Imaginäre vor, das eher eine Domäne anderer Kunstgattungen ist. Für Stünkel und Wiesinger ist ein Bild dann gelungen, wenn es sich zunächst dem Betrachter entzieht und ihn andererseits aber wieder zum Hinsehen bringt. In beiden Werken zwingt die Unschärfe zu einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit dem Gezeigten.

Dabei formulieren Stünkel und Wiesinger für sich den Anspruch der schon vor rund 100 Jahren aufgekommenen abstrakten Fotografie mit perspektivischen Illusionen etwa des niederländischen Konzeptkünstlers Jan Dibbets oder der Japanerin Tomoko Yoneda, die poetisch und analytisch zugleich zu zeigen versucht, dass hinter dem Sichtbaren immer auch etwas Unsichtbares steckt, das es zu erkennen gilt. Während Wiesinger das fast durchgehend umgesetzt hat, wirken die Werke Stünkels bisweilen auch etwas dekorativ.

Kai Wiesinger und Franziska Stünkel verbindet eigener Aussage zufolge schon eine länger währende Freundschaft. „Wir schicken uns bisweilen die Arbeiten zu, um uns ein Feedback zu geben“,sagt Wiesinger. In Sindelfingen haben nun Galeriebesucher die Gelegenheit, die Arbeiten der beiden miteinander zu vergleichen.