Zum dritten Mal in ihrer Geschichte wollen die Grünen sich ein neues Grundsatzprogramm geben. Zum 40. Parteigeburtstag 2020 soll es fertig sein. Die neue Parteispitze will das jenseits der Flügelarithmetik diskutieren. Aber alternative Ideen liegen schon auf dem Tisch.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Der Wunsch nach Erneuerung liegt über der deutschen Parteienlandschaft. Die Volksparteien CDU und SPD wollen sich ein neues Grundsatzprogramm geben, weil ihnen nicht nur bei der jüngsten Bundestagswahl Wähler in Scharen davongelaufen sind. Auch die Grünen haben bei ihrem Parteitag in Münster Ende 2016 bereits beschlossen, dass sie die Frage, wie es mit ihnen weitergehen soll, erneut auf die Tagesordnung setzen. Das war noch vor dem Aufstieg der AfD in den Bundestag, der die politische Konkurrenz von links bis rechts erschüttert hat.

 

Damals hatten die Grünen das Ziel, nach der Wahl auf Bundesebene wieder zu regieren, fast egal mit wem, noch fest im Auge. Das hat bekanntermaßen nicht geklappt, stattdessen sind sie zur kleinsten Oppositionsfraktion im Bundestag geschrumpft. Aber nach wie vor regieren sie in neun Ländern mit. Die klassischen Koalitionen im linken Lager sind dabei mit Rot-Grün (Hamburg und Bremen) und Rot-Rot-Grün (Berlin und Thüringen) in der Minderzahl. Lagerübergreifende Bündnisse sind die Grünen dagegen fünfmal eingegangen. Die Bandbreite reicht von Grün-Schwarz in Baden-Württemberg, Schwarz-Grün in Hessen, Schwarz-Rot-Grün in Sachsen-Anhalt über das Jamaika-Bündnis in Schleswig-Holstein bis zur Ampel in Rheinland-Pfalz.

Das ist die machtpolitische Lage, in der der Erneuerungsprozess jetzt beginnt. An diesem Freitag fällt auf einem Länderrat in Berlin der Startschuss für die Arbeit am Grundsatzprogramm. Im Jahr 2020 soll es fertig sein, rechtzeitig zum 40. Geburtstag der Ökopartei. Wohin die Grünen streben, hält die Parteispitze offensiv offen. „Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit änderte sich die Welt so rasend schnell“, heißt es im Impulspapier des Parteivorstands. „Lassen wir uns verunsichern! Lassen wir uns auf eine offene Debatte ein!“ Das erklärte Ziel ist, nicht nur die Grünen, sondern auch möglichst viele Bürger jenseits der Parteigrenzen für die Kursbestimmung der Partei zu interessieren. Eine Richtung für den Prozess steht damit fest: nach unten und nach außen. Die Grünen wollen raus aus dem Establishment „da oben“, von dem sich die von der Demokratie Enttäuschten und Frustrierten nicht mehr vertreten fühlen, und ran an die Bürger – auch jenseits ihrer klassischen Anhängerschaft, wo alle sowieso ziemlich ähnlich denken.

Die Grünen wollen sich öffnen und ran an die Bürger

Was die Positionsbestimmung politisch heißen kann, lassen die neuen Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck dagegen im Ungefähren. Die „vierte Phase“ in der Geschichte der Grünen wollten sie jetzt einläuten, heißt es im Vorstandspapier nebulös. Gemäß dieser Lesart haben die Grünen 1980 als Protest- und Antiparteienpartei begonnen. Nach dem Einzug in die Parlamente begann die zweite Etappe der Grünen als rot-grüne Projektpartei, die mit der Regierungsbeteiligung im Bund 2005 endete. Seither läuft Phase drei, in der die Grünen in den Ländern in vielen verschiedenen Koalitionen regieren.

Die Grünen und ihr Problem mit dem Spagat

Phase drei kommt an der Grünen-Spitze ziemlich schlecht weg. Der Parteivorstand beschreibt sie als anstrengenden Spagat mit einem schweren Nachteil: „Im Spagat kommt man nicht voran.“ Das reiche „angesichts eines erstarkenden Rechtsnationalismus für uns als Partei nicht mehr aus. Wir müssen laufen, und zwar gemeinsam.“ Die Partei brauche „all unsere Sprungkraft für eine neue Entschlusskraft, für die vierte Phase der Grünen“.

Zuletzt hat die Partei ihr Grundsatzprogramm 2002 geändert. Damals zollten die Grünen vor allem dem seit der Parteigründung vollzogenen Wandel von der Antiparteienpartei zur Partei mit Regierungsverantwortung auf Bundesebene Tribut. Heute wollen die Grünen weiter wachsen und auch wieder an die Macht im Bund. Die Grundwerte Ökologie, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Demokratie und Gewaltfreiheit sollen weiter gelten – weitere Leitplanken für die Grundsatzdebatte gibt es vorerst nicht. Aber ganz wird die Partei sich um Richtungsfragen nicht herummogeln können. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der sich zu Fragen grüner Kursbestimmung derzeit nicht äußern will, hat vor Kurzem in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen interessanten ganzseitigen Aufsatz über das Konservative in der heutigen Zeit veröffentlicht. „Wertgebundenes Gestalten – das ist die Grundidee des Konservatismus unserer Tage“, schreibt er. Der Satz würde auch als Motto für Kretschmanns eigenes Regierungshandeln im Südwesten taugen. Moderne Konservative sind grün, so das eindeutige Urteil des mächtigsten grünen Realos. Man kann seinen Text durchaus auf die Frage zuspitzen, ob die Grünen die neuen Konservativen sind – oder werden wollen.

Moderne Konservative oder progressiver Gegenpol?

Parteichef Habeck, der die Suche nach dem neuen Programm nicht entlang der Flügelarithmetik, sondern offener gestalten möchte, will Kretschmanns Aufsatz nicht als Beitrag zur grünen Grundsatzdebatte verstanden wissen. Er wertet ihn als Reaktion auf die misslungenen CSU-Äußerungen über eine konservative Revolution.

Ob Jürgen Trittin, Vormann des linken Flügels, das auch so sieht, ist nicht bekannt. Jedenfalls hat er – zeitgleich mit Kretschmanns Aufsatz – auf seiner Internetseite Thesen zur Neuorientierung der Grünen formuliert. Da Union und SPD sich an der AfD abarbeiteten, seien die Grünen „auf der linken Seite des Parteienspektrums allein zu Hause“, so Trittin. Deshalb müsse die Partei der „progressive, sozialökologische Gegenpol zur Rechtswende der Gesellschaft“ werden.