Expressionismus als Lebensaufgabe: Hildegard Ruoff pflegt in der Nürtinger Villa Pfänder den Nachlass ihres 1986 verstorbenen Mannes Fritz.

Nürtingen - Vom Keller bis unter das Dach ist die alte, in der Nürtinger Schellingstraße gelegene Villa Pfänder voll mit Kunst und Literatur. An den Wänden hängen Bilder, auf Tischen finden sich Skulpturen in verschiedenen Größen, die Regale sind voll mit Kunstbänden, philosophischen Werken, Romanen und Sachbüchern. Freie Winkel gibt es kaum. Dennoch ist das Haus, in dem Hildegard Ruoff wohnt, ein harmonisches Ganzes. Es bildet ihre Vita ab. Hier in den Räumen der Nürtinger Fritz und Hildegard Ruoff Stiftung pflegt die 94-Jährige das künstlerische Erbe ihres vor 27 Jahren verstorbenen Mannes.

 

Der Maler und Bildhauer Fritz Ruoff fällt im Dritten Reich in die Kategorie „entartete Künstler“. Einzelausstellungen in London und New York in den 1960er und 1970er Jahren sind der „Ritterschlag“ für den Künstler. Kraftvolle Schaffensperioden im Wechsel mit schwerer Krankheit und begleitenden Depressionen kennzeichnen sein Dasein. In den Krisen ist Hildegard Ruoff die Stütze ihres Mannes, sie hält ihn am Leben.

„Guten Tag, Frau Ruoff, wie geht es Ihnen?“ – „Ich bin einverstanden“, entgegnet die rüstige Dame, serviert grünen Tee aus dem Himalaja mit einem Teller Plätzchen und beginnt zu erzählen.

Hunger auf Expressionismus

1931 gründet Fritz Ruoff gemeinsam mit seinen Freunden Erich Geßmann und Hermann Krimmer, mit denen er bei Alfred Lörcher an der Kunstgewerbeschule in Stuttgart studiert, R-G-K. Die Initialen ihrer Nachnamen stehen auch für „Rotes-Graphiker-Kollektiv“. Politisch links, sind sie fasziniert von den Brücke-Künstlern, Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner. 1933 müssen die drei die Schule verlassen. Werke von Künstlern, die gegen die Tendenzen des Naturalismus wirken, verschwinden aus Galerien und Museen. Seinen Hunger auf Expressionismus stillt das Trio unter anderem im Kunsthaus Schaller, das wenigstens Reproduktionen von durch die Nazis längst verfemten Werken der modernen Kunst führt.

Hier trifft Ruoff 1941 Hildegard, die bei Schaller als Kunsthändlerin arbeitet und damals noch Scholl heißt. Das Herz der 22-Jährigen erobert der 13 Jahre ältere Mann im Sturm. „Fritz war einfach der am besten aussehende Mann“, sagt Hildegard Ruoff und lacht.

Doch es ist nicht nur die äußere Erscheinung des Mannes, sondern genauso die seelische und geistige Tiefe, die sie an ihm fasziniert. Die beiden schreiben sich Briefe. „So fingen Glanz und Elend meiner Liebe an“, sagt Hildegard Ruoff. „Liebe besteht nicht darin, dass man einander anschaut, sondern dass man gemeinsam in dieselbe Richtung blickt.“ Dieses Zitat von Saint-Exupéry beschreibt die Beziehung der beiden treffend.

Die Begegnung mit Fritz Ruoff

Amors Pfeil deutet nach Nürtingen. Nach der Hochzeit 1943 zieht das Paar dorthin, wo Fritz’ Eltern eine Metzgerei mit der Gastwirtschaft Zum Zeppelin führen. Jetzt wie in der Folgezeit verrichtet Hildegard Ruoff Arbeiten, die für sie bis vor Kurzem noch nicht vorstellbar gewesen sind. „Ich bin in die Metzgerei gestanden, habe Wurst und Schnitzel geschnitten und Knochen gesägt“, erinnert sie sich.

Hildegard Ruoff wird am 3. Oktober 1919 in Stuttgart geboren. Der Vater ist im Bankfach tätig. Er erzieht die Tochter preußisch streng, Haltung und Stil haben eine hohe Bedeutung. Hildegard wächst konfessionslos auf und „absolut weltoffen“, wie sie sagt. Früh zeigt sich die musische Begabung des Kindes. Hildegard malt und zeichnet und entdeckt ihre Liebe zum geschriebenen Wort. Nach der Schule will sie an der Kunstakademie Stuttgart studieren, doch das Familienvermögen geht nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Ausland verloren. Ans Aufgeben denkt Hildegard dennoch nicht. Sie will Geld verdienen, um nach dem Kriegsende Kunst zu studieren. „Heiraten wollte ich nie“, sagt sie. Doch die Begegnung mit Fritz Ruoff verändert alles.

Im Nachkriegs-Nürtingen stößt die Stuttgarterin auch auf Misstrauen. „Pass auf, dass das Stadtmädel dich nicht nur wegen der Wurst und dem Fleisch poussiert“ – diese Warnung bekommt Fritz Ruoff wiederholt zu hören. Doch es dauert nicht lang, bis sich die Vorurteile ins Gegenteil verkehren. Die Nürtinger kaufen ihre Wurst am liebsten, wenn Hildegard Ruoff hinter der Theke steht, und bedauern, dass ihr Mann Fritz die Metzgerei nicht weiterführt.

Anfang der 60er Jahre gelingt der Durchbruch

Fritz Ruoffs Werkzeuge sind nicht das Fleischermesser und die Knochensäge, sondern Pinsel, Zeichenstift, Hammer und Schlägel. Er widmet sich intensiv der Malerei und der Bildhauerei, seine Kunst ernährt das Ehepaar zu diesem Zeitpunkt aber nicht. Zwölf Jahre lang verkauft Fritz Ruoff nicht ein einziges Werk über eine Galerie, mühsam versucht er, sich mit Auftragsarbeiten über Wasser zu halten. Er ist auf das Einkommen seiner Frau angewiesen: In den 50er Jahren verkauft Hildegard Ruoff im Seifenhaus und Parfümerie Blind Kosmetika, später arbeitet sie als Sekretärin in einem Architekturbüro.

Bis sich Ruoffs Kunst verkauft, ist es ein langer Weg. Erst als er um die 60 Jahre alt ist, schafft der Weggefährte von HAP Grieshaber auch kommerziell den Durchbruch. Expressiver Realist als Bildhauer, findet Ruoff als Maler den Weg über die Abstraktion zur Ordnung und Schönheit der Geometrie. In der abstrakten Malerei des deutschen Südwestens messen Kunstexperten wie der Stuttgarter Günther Wirth ihm nun eine herausragende Stellung bei.

Anfang der 60er Jahre wird die Nürtinger Kunstsammlerin Auguste Pfänder auf den wichtigen zeitgenössischen Künstler aufmerksam. Die Ruoffs beziehen auf Bitte der Mäzenin das obere Stockwerk ihrer Villa. Ein Jahr später beginnt die Zusammenarbeit Ruoffs mit dem Drucker Poldi Domberger, durch die der Name des Nürtingers einem breiteren Publikum bekannt wird. Ruoff hat Erfolg mit Aquarellen. Doch wer glaubt, er sei nun am Ziel seiner Träume angekommen, sieht sich getäuscht. Ruoff, der im wahren Leben nicht gerne reist, schlägt künstlerisch immer wieder neue Wege ein, ist und bleibt zeitlebens ein Suchender.

Die Frage nach dem Sein

Hildegard Ruoff würde als junge Frau gerne Kunst studieren. Sie ist ambitioniert, doch ist der Zwang in ihr nicht so intensiv wie in ihrem Mann. Seine Schaffenskraft beschreibt sie mit einer Passage aus Nietzsches „Ecce homo“: „Ja! Ich weiß, woher ich stamme! / Ungesättigt gleich der Flamme / Glühe und verzehr’ ich mich. / Licht wird alles, was ich fasse, / Kohle alles, was ich lasse: / Flamme bin ich sicherlich.“

Hat Hildegard Ruoff sich aufgeopfert, ihr eigenes künstlerisches Talent verleugnet, um ihrem Mann ein Leben für und in der Kunst zu ermöglichen? Die 94-Jährige sitzt an einem Tisch in ihrem Büro, nippt an ihrer Porzellantasse mit erlesenem grünem Tee und schüttelt energisch den Kopf. „Ich habe keine Stunde bereut“, sagt sie.

Hildegard Ruoff versteckt sich nicht hinter ihrem Mann. Sie ist energisch, eine Macherin. Nach dem Krieg leben viele Flüchtlinge in Nürtingen, die nach Lektüre hungern. Hildegard Ruoff gründet eine Leihbücherei und lernt den jungen Peter Härtling kennen. Zwischen dem literaturversessenen Flüchtlingsjungen und dem Künstlerehepaar Ruoff entwickelt sich eine Freundschaft. Bis heute steht Hildegard Ruoff mit dem Schriftsteller in engem Kontakt.

Die Stiftung ist eine große Aufgabe

Im Nürtinger Kulturleben entwickelt sich Hildegard Ruoff – unabhängig von ihrem Mann – zu einer Größe. Sie wirkt bei der Organisation der Jahresausstellungen des Künstlerbundes Baden-Württemberg mit, lernt Maler und Bildhauer persönlich kennen. Sie stickt Paramenten – Gewänder für Kirchen – nach Entwürfen ihres Mannes und entdeckt die Fotografie für sich als weiteres kreatives Ausdrucksmittel. 1983 erscheint der Doppelband „Blicke + Bilder“, von ihm stammen die Aquarelle, sie steuert die Fotografien bei.

Im selben Jahr erkrankt Fritz Ruoff abermals schwer und erholt sich nach einer Operation nie mehr ganz. 1986 verstirbt er. Mit derselben Hingabe, mit der Hildegard Ruoff ihren Mann zuvor gepflegt hat, wenn er zu schwach zum Aufstehen gewesen ist, pflegt sie seither den Nachlass ihres Mannes – seit zehn Jahren nun in der Stiftung. Mit der Unterstützung eines Freundeskreises und gefördert von der Stadt sind in der Villa regelmäßig Ausstellungen zu sehen, auch mit internationalen Künstlern, die Besucher aus der Region und darüber hinaus anziehen. Zweimal pro Jahr präsentiert die Stiftung eine Werkschau, die den Bogen spannt über die Schaffenszeit von Fritz Ruoff – zuletzt dessen Beschäftigung mit dem Oval. Für den Stuttgarter Kunstwissenschaftler Tobias Wall sind diese späten Werke „von einer großen Zartheit und Empfindsamkeit“. Von dem ganzen Haus gehen eine große Ruhe und Klarheit aus. „Die Dinge fühlen sich alle miteinander wohl“, erklärt Hildegard Ruoff.

Durch die Stiftung weht Fritz Ruoffs Geist. „Er hat mich nicht allein und hilflos zurückgelassen“, sagt seine Witwe. Angezogen von seiner Kunst kommen Menschen zu ihr in die Schellingstraße 12 und halten ihre Neugierde und ihre Sehnsüchte wach. Der Dialog mit Künstlern und der Kunst selber dreht sich im Kern um die Frage, die Fritz Ruoff nie losgelassen hat: Woher komme ich, wohin gehe ich? „Die Frage nach dem Sein interessiert mich mehr denn je“, sagt die 94-Jährige. In diesem Licht betrachtet, ist der Mann, dem sie 45 Jahre lang eine Stütze war, noch am Leben.

„Am Ende hatte ich manchmal das Gefühl, dass er mich gar nicht mehr brauchte“, sagt Hildegard Ruoff. Diese Erfahrung mache es ihr einfacher, selbst Abschied zu nehmen, wenn die Stunde einmal da ist. Zeit wünscht sich Hildegard Ruoff, um an den vielen Aufgaben in der Kunststiftung noch weiterzuarbeiten.