Sie waren Nachbarn, wurden ermordet und vergessen. Die Initiative Stolperstein rüttelt das Gedächtnis wach. Seit 20 Jahren. Demnächst wird der Kölner Künstler Gunter Demnig den 1000. Stolperstein in Stuttgart verlegen.

In der Pflasteräckerstraße 32 wohnte Adolf Gerst. Der Buchbinder lästerte zu laut über die Nazis, Denunzianten hörten mit und zeigten ihn an. Am 9. Mai 1944 wurde er vom Volksgerichtshof wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Am 22. Juni 1944 richteten ihn die Mörder mit dem Fallbeil hin. Nicht weit von Gerst entfernt, in der Landhausstraße 181, lebte das Ehepaar Jakob und Selma Holzinger. Bis zur Machtergreifung der Nazis hatte Jakob Holzinger als Arzt praktiziert, als sie 1940 ins KZ deportiert werden sollten, wählten die Holzingers am 8. November den Freitod.

 

Das waren die ersten Stolpersteine, die der Kölner Künstler Gunter Demnig in Stuttgart verlegte. Im Oktober 2003 war das. Am 15. März kommen neun neue hinzu. Damit sind es dann über 1000 Steine. Zehn mal zehn Zentimeter misst das Erinnern. So groß ist die Messingplatte, die auf den aus Beton gegossenen Steinen befestigt wird, und auf der Demnig mit Hammer und Schlagbuchstaben „Hier wohnte“, Namen und Schicksal der Opfer einstanzt. Sie sind nicht sehr groß, die Stolpersteine, doch sie wirken in die Welt hinaus. Viele ehemalige Stuttgarter, die vor den Nazis geflüchtet waren, und deren Nachfahren danken per Brief und Mail – oder kommen selbst zu den Verlegungen.

Die Tante wurde erschossen, ihr Mann starb im KZ

So wie der 90 Jahre alte Ernst Gruber. Den Sohn einer jüdischen Mutter und eines evangelischen Vaters schickten die Nazis nach Theresienstadt, mit seiner Mutter, einem Bruder und seiner Schwester. Von sowjetischen Soldaten wurden sie befreit. Seine Tante Selma Süss-Schülein wurde in Lettland erschossen, ihr Mann Siegfried starb im KZ Kaufering. Ihre Steine werden in der Eberhardstraße 2 verlegt, dort wohnten sie, bevor sie in ein Judenhaus mussten. So nannten die Nazis die Häuser, in die sie Juden brachten und zusammenpferchten. Aus England kommt die Enkelin von Hermann und Paula Mendle. Das Ehepaar wird 1941 nach Riga deportiert. Paula Mendle erschießen die Mörder im Wald von Bikernieki, Hermann stirbt an Typhus. Doch beiden Töchtern haben sie die Flucht ins Ausland ermöglicht, Irene flieht nach England, Karolina in die USA. Ihre Steine werden an der Frühlingshalde 8 verlegt.

Das Geld aus dem Hausverkauf kassierte der Staat

Paula Beifus starb in Auschwitz. Mit ihrem Mann Bernhard lebte sie in der Gaußstraße im Westen. Das Haus ließen sie vom Büro Oscar Bloch/Ernst Guggenheimer bauen, Vertreter der Neuen Bauens. Ende 1938 mussten sie das Haus für einen Spottpreis verkaufen. Das Geld kassierte größtenteils der Staat, als Judenvermögensabgabe. Und der Käufer sollte aufs Haus ein „deutsches Dach“, ein Walmdach, bauen. Bernhard Beifus starb 1940. Tochter Hilde durfte nicht Jura studieren, sie ging nach Brüssel, später nach Palästina. Dort nahm sie sich 1959 das Leben. Aus Israel werden Enkelin und Urenkel von Paul Beifus kommen.

Sie alle haben nicht nur einen Stein: Sie bekommen ein Gesicht, haben ihr Leben zurück. Bis vor 20 Jahren waren ihre Schicksale, geflissentlich von einer unmenschlichen Bürokratie protokolliert, begraben in Akten und in Archiven verschüttet; dem Vergessen anheim gegeben. Eine Handvoll Bürger aus dem Stuttgarter Osten rüttelte das Gedächtnis wach, recherchierten die Schicksale und suchte den Kontakt zu dem Kölner Künstler Gunter Demnig. 1992 hatte Demnig begonnen die Stolpersteine zu verlegen. Bis heute verlegt er jeden Stein selbst.

Der Bezirksbeirat lehnte den Vorstoß für ein Denkmal ab

Die Initiative fühlte 2003 bei der Verwaltung vor, mit bangen Erwartungen. Schließlich hatte man im eigenen Bezirksbeirat feststellen müssen, dass mancher ganz froh ist, wenn sein Gedächtnis Lücken hat. Der Vorschlag, ein Denkmal für Nazi-Opfer vor dem Bürgerzentrum Ost zu errichten, empörte einen Bezirksbeirat so sehr, dass er rief: „Ich will nicht, dass mein Sohn mit so etwas konfrontiert wird!“ Der Vorschlag wurde abgelehnt. Mit den Stolpersteinen wandte sich die Initiative gleich an die Stadt und stieß auf Wohlwollen: Erinnern ist erlaubt und wird unterstützt.

Das waren die Anfänge. 20 Jahre später liegen demnächst mehr als 1000 Steine. Und das Engagement der nach Bezirken aufgeteilten Aktiven ist unverdrossen. Doch sie sind eben auch in Ehren ergraut, wie Koordinator Werner Schmidt feststellt. Durch Zusammenarbeit mit Schulklassen und Vorträge versuchen sie, Interesse für das Thema zu wecken. Denn Hilfe können sie gebrauchen. Auch für das Putzen und Pflegen der Steine, Paten sind jederzeit willkommen. Doch nur ehrenamtlich werde es nicht mehr gehen, sagt Schmid. Deshalb haben sie nun 30 000 Euro von der Stadt beantragt für eine halbe Stelle. Die Arbeit geht ihnen nicht aus. Alleine 4600 Stuttgarter jüdischen Glaubens wurden ermordet. Ganz zu schweigen von angeblich Behinderten, Regimegegnern, Sinti und Roma, Homosexuellen und vielen anderen. Es gibt noch viel zu tun.