In der Straße von Gibraltar melden Segler immer wieder Attacken von Orcas. Über den Grund wird noch immer gerätselt.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Diego Flores fühlte sich plötzlich wie im Horrorfilm. Nichts ahnend segelte der Spanier mit seiner Frau vor der Küste von Cádiz, als vier Orcas aus dem tiefblauen Atlantik auftauchten. Zuerst habe er sich nichts dabei gedacht und sich über den seltenen Besuch gefreut, erzählte Flores im spanischen Radio schockiert, doch dann begannen die Tiere das Schiff zu attackieren. Erst nach einer halben Stunde hätten die Meeresräuber von dem Boot abgelassen, aber das Ruder war so schwer beschädigt, dass der erfahrene Skipper einen Notruf absetzen musste.

 

Die Zahl der Orca-Angriff nimmt schnell zu

Für die Küstenwache in Spanien und Portugal sind solche Meldungen inzwischen nichts Neues mehr. Vor zwei Jahren haben die Angriffe der Orcas überraschend schnell zugenommen. Dabei laufen die Attacken fast immer nach demselben Muster ab. Die Tiere nähern sich den Segelbooten von hinten, wo am Heck unter der Wasserlinie das Ruderblatt befestigt ist. Zuerst schwimmen sie heran und beobachten die Ruderbewegungen. Dann rammen die tonnenschweren Schwertwale das Steuerruder, manchmal verbeißen sie sich in das Ruderblatt und reißen mit ihren messerscharfen Zähnen ganze Stücke heraus.

„Die Orcas terrorisieren die gesamte Region“, sagt Mathias Lohse. Der Stuttgarter hat mit seinem Segelschiff in der spanischen Hafenstadt Motril überwintert, und bei den abendlichen Runden an Deck gibt es unter den Skipper oft kein anderes Thema mehr. „Kaum einer traut sich mehr weit raus auf den Atlantik“, beschreibt der 62-Jährige die Situation. Wer von Portugal kommend ins Mittelmeer segle, drücke sich meist nah an der Küste entlang und meide aus Furcht vor den Räubern die offene See. „Es ist völlig komisch“, erzählt Lohse, „im Mittelmeer ist dann wieder alles ruhig.“

Die Zwischenfälle werden alle dokumentiert

Aus zahlreichen Erzählungen von anderen Skippern weiß der Segler, dass sich rund 50 Tiere in mehreren Gruppen rund um die Straße von Gibraltar aufhalten. Inzwischen wurde eine Forschergruppe mit dem Namen Orca Iberica eingerichtet. Anfangs seien nur drei der Tiere auffällig geworden, heißt es in Berichten, inzwischen seien es bereits 16 von ihnen. Inzwischen werden alle Zwischenfälle sorgfältig dokumentiert. Von Juli 2020 bis Oktober 2022 kam es zwischen der marokkanischen Küste und der französischen Bretagne nach Auskunft der Forscher zu insgesamt 443 „Begegnungen“ zwischen Orcas und Segelschiffen.

Die meisten der Angriffe ereigneten sich zwischen der andalusischen Hafenstadt Cádiz und der Meerenge von Gibraltar, die den Atlantik mit dem Mittelmeer verbindet. Das ist eine sehr fischreiche Zone, in der die Schwertwale, die wegen ihrer Jagdmethoden den Beinamen Killerwale haben, gerne Thunfischen nachstellen. Die ziehen von Juni bis August zum Laichen in die Straße von Gibraltar und ins westliche Mittelmeer, für die Orcas ist der Tisch dann reich gedeckt.

Orcas sind eigentlich gesellige Tiere

Auf die Frage, warum die Orcas die Segelschiffe attackieren, haben die Fachleute auch nach mehr als zwei Jahren keine wirklich endgültige Antwort. Sie alle betonen, dass die Orcas im Grunde gesellige Tiere seien, die vielleicht „nur spielen“ wollten.

Anfangs machte wilde Theorien die Runde. Erzählt wurde, dass sich die Orcas auf einer Art „Rachefeldzug“ befinden würden. Die Schiffe würden attackiert, weil sie Vergeltung für einen Angriff im Juli vor zwei Jahren an der Straße von Gibraltar üben, bei dem zwei Weibchen unter anderem durch Harpunenschüsse verletzt worden seien.

Das aber schieben die Forscher in das Reich der Mythen. Sie haben nun so viele Daten gesammelt, dass sie gewisse Parallelen bei den Attacken sehen können. So sind zum Beispiel nur Segelboote betroffen. Zudem seien es nur Jungtiere, die die Ruderblätter demolieren, während die älteren Orcas das Boot flankieren. Das erinnere an die Strategie bei der Thunfischjagd: Dabei nehmen mehrere Schwertwale die ebenfalls ziemlich großen Thunfische in die Zange, während andere versuchen, das Opfer durch Rammstöße und Bisse in die Schwanzflosse zu schwächen.

Verhaltensregeln für die Segler

Die Experten von Orca Iberica haben inzwischen auch Verhaltensregeln ausgeben, wie die Segler sich im Fall einer Attacke verhalten sollen. Vor allem solle der Motor und der Autopilot ausgemacht werden, wenn der Wellengang es zulasse, sollte auch das Steuerrad nicht fixiert werden. Nicht anzuraten sei zu versuchen, die Tiere mit Schreien zu verscheuchen, das rege nur ihre Neugier an. Bei der Planung der Routen rund um Gibraltar können die Skipper nun auch auf einer Karte nachsehen, wo es zuletzt zu Begegnungen mit den Tieren gekommen ist.

Auf Mathias Lohse wirken solche Maßnahmen alles andere als beruhigend. „Bisher habe ich mich immer gefreut, wenn ich auf dem offenen Atlantik Delfinen oder auch Walen begegnet bin“, sagt der Segler. „Aber durch die Attacken wird jeder daran erinnert, dass die Orcas schlicht wilde und auch gefährliche Tiere sind.“