Nur vordergründig geht es im Nordschwarzwald um Totholz und Borkenkäfer. Jenseits von Gutachterschlachten offenbaren sich fundamental unterschiedliche Vorstellungen von der Natur.

Stuttgart - Der Streit tobt seit mehr als zwei Jahren. Von einem mehr als 1200 Seiten dicken, europaweit ausgeschriebenen Gutachten, das die möglichen Folgen eines Nationalparks im Nordschwarzwald für Natur, Wald, Wirtschaft und Tourismus abschätzen und Antworten auf mehr als 1600 Bürgerfragen geben sollte, erhoffte sich die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg einen Befreiungsschlag in der festgefahrenen Debatte. Das Ergebnis: die Gutachter sehen „mehr Chancen“ als Risiken und schätzen diese, insbesondere das Borkenkäferproblem, als „beherrschbar“ ein.

 

Das war das Startsignal für viele Bürgermeister und Landräte, sich für den Nationalpark auszusprechen. Sie hatten längst dessen Potenzial als Infrastrukturspritze für den im Nordschwarzwald darbenden Tourismus erkannt. Einige Kommunen – wie etwa Baden-Baden, Bühl und Laufs – bieten gar gemeindeeigenen Wald an, um Nationalparkgemeinde werden zu können; bisher ist das rund hundert Quadratkilometer große Gebiet ausschließlich im Staatswald geplant.

Die Ablehnung ist überraschend hoch

Die Hoffnung, das Gutachten liefere die Grundlage für eine sachliche Diskussion mit den Bürgern vor Ort, erwies sich jedoch als Trugschluss. Das Meinungsbild bei den Bürgerbefragungen in sieben von 19 Gemeinden im Suchraum des Nationalparks war eindeutig: Die Ablehnung war mit 64 bis 87 Prozent überraschend hoch, die Beteiligung an der – rechtlich unverbindlichen – Briefabstimmung war deutlich höher als 50 Prozent. Dennoch hält die Landesregierung am Naturschutzgroßprojekt fest. Sie hat allerdings mit Rücksicht auf die Bürgerbefragung die Kulisse des Nationalparks so verschoben, dass nur noch zwei der sieben Protestgemeinden tangiert sind. Der Gesetzentwurf ist auf den Weg gebracht. Die Entscheidung über das Gesetz obliegt dem Landtag, der im Herbst darüber beraten soll. Die Situation in der Region jedoch ist nicht befriedet.

Weshalb lehnen ausgerechnet Menschen in ländlichen Gegenden, die mehr Bezug zur Natur haben als die Städter, einen Nationalpark so vehement ab, im Schwarzwald wie auch andernorts? Abgesehen von den politischen Frontlinien im Südwesten – Bürgerbeteiligung, Revanche für Stuttgart 21 und Regierungswechsel – geht es bei diesem Streit ganz grundsätzlich auch um Emotionen, um moralisch-ethische Aspekte und sehr unterschiedliche Vorstellungen von Natur, ihrem Nutzen, ihrem Wert.

Die Gegner fürchten den Verlust der Heimat

„Die Regierung will unseren wunderschönen Wald verrecken lassen“, hatte ein Nationalparkgegner dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann bei einer Bürgerversammlung in Baiersbronn wütend vorgeworfen. Für die Gegner ist ein Nationalpark Naturschutz „in seiner radikalsten Form“, der Mensch müsse ohnmächtig das Treiben der Natur geschehen lassen. Der Borkenkäfer werde all die grünen Fichten fressen, zurück blieben kahle Baumskelette. Das geliebte Wald- und Landschaftsbild werde somit zerstört – was gleichgesetzt wird mit dem „Verlust unserer Heimat“. Zudem fühlen sich viele mit dem Wald verwurzelte Menschen, die Waldbauern, Säger, Jäger, aber auch staatliche Förster, durch den sogenannten Prozessschutzgedanken – der Mensch greift nicht mehr ein in die natürlichen Prozesse von Ökosystemen – herabgewürdigt. Sie empfinden diesen als Kritik in ihrem langjährigen Bemühen um nachhaltige Forstwirtschaft.

Anspruch, die Natur total zu beherrschen

„Was ist so falsch daran, die Natur zu nutzen?“, mit dieser Frage brachte ein Gegner die Haltung auf den Punkt, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Dies hatte schon der griechische Philosoph Protagoras im fünften Jahrhundert vor Christus so formuliert. Das Weltbild des Anthropozentrismus begründet bis heute den Anspruch des Menschen auf totale Beherrschung und Ausnutzung der Natur, der rein ökonomische Nutzen für den Menschen steht im Vordergrund. „Nichts“, könnte man dem Gegner also mit dem Philosophen antworten. Aber ebenso gut könnte man die – physiozentrische – Gegenfrage stellen: „Was ist falsch daran, die Natur zu schützen?“ Denn wenn die Natur einen Wert an sich darstellt, besteht die moralische Verpflichtung darin, sie zu schützen.

Diese Entweder-oder-Gegenüberstellung hat allerdings rein rhetorischen Charakter angesichts der räumlichen Dimension des Streitgegenstands: Das Gebiets des Nationalparks soll 10 000 Hektar umfassen, eine Fläche also von zehn auf zehn Kilometer – 0,7 Prozent der Waldfläche Baden-Württembergs sind es letztlich, die ganz der Natur überlassen werden sollen.

Der Südwesten muss beim Naturschutz nachholen

Baden-Württemberg, das gern und stolz das Etikett „Musterländle“ trägt, hat im Naturschutz Nachholbedarf. 14 Nationalparks gibt es in Deutschland, die meisten sind von CDU-geführten Landesregierungen ausgewiesen worden. Den ersten Nationalpark etablierte 1970 im Bayerischen Wald die CSU. Inzwischen gibt es internationale Verpflichtungen und rechtliche Vorgaben. Seit 1994 ist der „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere“ im deutschen Grundgesetz, Artikel 20a, als Staatsziel mit Verfassungsrang verankert, auch „in Verantwortung für künftige Generationen“. 2007 hat die von einer CDU-Kanzlerin geführte Große Koalition die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ verabschiedet, 15 Jahre nach dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt CBD auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro.

Die biologische Vielfalt wird immer weniger

Im aktuellen Rechenschaftsbericht zur Umsetzung der Nationalen Strategie nennt die Bundesregierung die Verlustraten der biologischen Vielfalt „alarmierend“. Die Kanzlerin hält an der Strategie fest. „Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen und unserer Vielfalt der Natur ist mir ein Anliegen“, bekannte sie jüngst in ihrem Video-Podcast. Zudem bekräftigte Angela Merkel ausdrücklich: „Die Bundesregierung unterstützt, dass wir fünf Prozent unserer Wälder bis zum Jahr 2020 sich völlig frei entwickeln lassen, das heißt, dass daraus wieder Wildnis wird.“ Sie begründete diese Absicht damit, dass es „außerordentlich wichtig“ sei, die Menschen wieder mit der Natur vertraut zu machen, wohl wissend, dass dies ein „nicht immer unumstrittenes Projekt“ sei.

Nicht unumstritten? Das ist stark untertrieben. Tatsächlich werden solche Naturschutzprojekte, bei denen der Prozessschutz nach dem Leitbild „Die Natur hat das Sagen“ im Mittelpunkt steht, vor Ort erbittert bekämpft. Das war bei der Etablierung aller Nationalparks so, und das ist jetzt so im Nordschwarzwald.

Der Ethikprofessor beobachtet die Debatte

Thomas Potthast, Professor am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen, hat die seit mehr als zwei Jahren andauernde Debatte beobachtet. Nahezu alle Argumente der Gegner und Befürworter hätten eine ethisch-moralische Dimension, stellt er fest. Die ethische Bewertung jedoch, also eine kritische Prüfung der Gültigkeit der moralischen Positionen und Argumente, ist nicht Gegenstand des großen Nationalparkgutachtens. Im Auftrag der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg hat Potthast allerdings selbst eine solche Expertise erstellt.

Der Anstoß dazu kam aus einer der Arbeitsgruppen der Regionalkonferenzen, die im vergangenen Jahr als Beteiligungsforum eingerichtet worden waren. Ethik, erklärt der Experte, müsse nicht nur nach Gut und Böse fragen, sondern sich auch die Frage stellen, welche Ziele gut begründet seien und welche nicht. Potthast und seine Co-Autorin Margarita Berg beziehen in der Expertise nicht überall Stellung, aber an manchen Punkten wird klar, dass sie die Argumente der einen Seite für plausibler halten als die der anderen.

Natur einfach Natur sein lassen?

Der Prozessschutz und damit das Motto „Natur Natur sein lassen“, das am meisten diskutierte Thema, sei jedenfalls „plausibel begründet“. So sei die dafür vorgesehene Kernzone des Nationalparks mit 7500 Hektar viel zu klein, um etwa das Aussterben bestimmter Arten – etwa des Auerhuhns – in der ganzen Region Nordschwarzwald auszulösen, wie immer wieder von den Gegnern angeführt wird. Andererseits sei diese Fläche deutlich größer als die Flächen für Alt- und Totholz in den Wirtschaftswäldern und auch größer als der mit 450 Hektar größte Bannwald von 129 Bannwäldern im Südwesten. Der großflächige Prozessschutz im Nationalpark trage damit zur Erhaltung der biologischen Vielfalt bei, weil hier Tier- und Pflanzenarten profitierten, die auf große Mengen Totholz und lange ungestörte Entwicklungsphasen angewiesen seien: die Spezialisten der Zerfallsphase unter den Insekten, Pilzen, Moosen, Flechten. Prompt höhnen die Gegner: „Die Hauptprofiteure eines Nationalparks sind die Fäulnisbewohner auf dem Totholz.“ Eine Ökodiktatur also, in der der Mensch nichts, die Natur alles gilt.

Naturschutz als Probe für die Demokratie

Es gehe nicht um eine Hierarchisierung, lautet Potthasts Antwort auf diesen Vorwurf. Prozessschutz sei nicht per se besser als Artenschutz, Nationalparks seien nicht moralisch besser als forstwirtschaftlich genutzte Wälder. Sein Fazit: aus umweltethischer Sicht sei es nicht sinnvoll, Naturlandschaften und deren biologische Vielfalt gegen vielfältige Kulturlandschaften wertend auszuspielen. Beides müsse sichergestellt werden – im Sinne der rechtlichen und ethischen Ziele und Verpflichtungen. Wer Naturschutz fordere, müsse in einer demokratischen Gesellschaft nachvollziehbar begründen, welche Natur er schützen wolle und warum sie geschützt werden sollte, fordert auch der Biologe Reinhold Piechocki. Er ist zuständig für das Fachgebiet Biodiversität an der Internationalen Naturschutzakademie auf der Ostsee-Insel Vilm, einer Außenstelle des Bundesamtes für Naturschutz. Piechocki benennt als Hauptproblem in dieser Diskussion, dass es keine eindeutigen Antworten gebe. In seinem Buch „Landschaft, Heimat, Wildnis“ zeigt er auf, wie die oft konträren Ansichten über die Natur geprägt sind durch die unterschiedlichen politischen Philosophien der Neuzeit.

Die Ursache für unlösbar scheinende aktuelle Konflikte liegt seiner Meinung nach im „unreflektierten Gebrauch der Naturbilder“. Tief sitzen offensichtlich aber auch „historische“ Feindbilder aus den siebziger Jahren, als die Frontlinien „Mensch versus Natur“, „Schutz versus Nutzung“ hießen und Naturschutz in der Bevölkerung wenig akzeptiert war.

Einen Hoffnungsschimmer sieht Piechocki aber: Der in den letzten Jahren zunehmend diskutierte Gedanke der Biodiversität habe die Chance eröffnet, solche Polarisierungen zu überwinden. Die Konfliktlinie laufe nicht mehr zwischen zwei Abstrakta – Mensch versus Natur –, sondern „zwischen Menschengruppen mit ihren unterschiedlichen Interessen, Wertvorstellungen und Ansprüchen“. Er fährt fort: „Lebensweisen zu überdenken und zu ändern, Wirtschaftsformen kritisch zu hinterfragen und umzuwandeln ist kein naturwissenschaftlich lösbares Problem, sondern eine umfassende Kulturaufgabe.“

Diskussion im Nordschwarzwald geht weiter

Im Nordschwarzwald muss die Diskussion mit der Bevölkerung also weitergehen. Der harte Kern des Widerstands aber, der Verein der Nationalparkgegner, verweigert sich jedem Dialog und verfolgt konsequent sein politisch-strategisches Ziel, einen Nationalpark zu verhindern. Er hat die Zeit genutzt, Stimmung zu machen gegen das Naturschutzgroßprojekt, während die staatlichen Stellen vor Ort – Landräte, Bürgermeister – die Maßgabe hatten, das Gutachten der Regierung abzuwarten.

„Lügner“, „alles Schwindel“ – für die Gegner ist das dicke Werk unabhängiger Berater schlicht ein Gefälligkeitsgutachten, dass obendrein vor Fehlern, Irrtümern und falschen Schlussfolgerungen strotze. Das wollen sie jetzt mit einem Gegengutachten beweisen. Weshalb aber sollte eine solche Gegenexpertise, erstellt von zwei erklärten Nationalparkgegnern – einem Professor im Ruhestand und einem ehemaligen Forstpräsidenten – mehr objektive Glaubwürdigkeit besitzen?

„Wenn der Nationalpark kommt, geht der Unfrieden weiter“, hatte ein wütender Gegner dem Ministerpräsidenten in einer Bürgerversammlung in Baiersbronn angedroht. Der Verein setzt weiterhin auf Totalverweigerung. Das muss so hingenommen werden. Aber eins ist klar: im Südwesten findet sich nur im Nordschwarzwald ein entsprechend großes, ökologisch wertvolles Gebiet, das weitgehend unzerschnitten ist von Straßen. Nur hier besteht die Chance, dass sich Natur ungestört von menschlichen Eingriffen entwickelt. Nur hier ist ein Nationalpark möglich.