Eine neuer Film von Produzent J. J. Abrams („Star Trek“ und „Star Wars“) kommt gar nicht erst ins Kino. Er läuft schon bei Netflix. Kinofreunde klagen, dieser „Cloverfield Paradox“ und andere Netflix-Premieren hätten unbedingt auf die Leinwand gehölt. Stimmt das wirklich?

Hollywood - Auf der Erde ist die Lage nicht rosig. Die globalen Energiereserven sind erschöpft, die Infrastrukturen brechen zusammen, die überall flackernden Verteilungskriege drohen, zum großen Weltbrand zu werden. Die letzte Hoffnung der Menschheit? Eine international bemannte Raumstation, auf der im Spielfilm „The Cloverfield Paradox“ ein ominöser Teilchenbeschleuniger seine frustrierende Testphase durchläuft. Würde das Maschinchen nur sauber zünden, erfahren wir, wäre im Nu die ganze Menschheit mit ausreichend Energie versorgt: Hollywood-Physik eben.

 

Aber man schaut sich Filme ja nicht als Vorbereitungskurs für Uni-Prüfungen an. „The Cloverfield Paradox“ wurde von J. J. Abrams produziert, spielt im gleichen fiktionalen Universum wie „Cloverfield“ (2008) und „10 Cloverfield Lane“ und dürfte jede Menge pseudowissenschaftlichen Unfug brabbeln, wenn der eine unterhaltsame Geschichte in Gang brächte. Abrams hat ja auch „Star Trek“ fürs Kino wiederbelebt, und das nicht dadurch, dass er überzeugende Erklärungen nachgereicht hätte, wie der Warp-Antrieb oder das Beamen tatsächlich funktionieren könnten.

Der Vorwurf der Verramschung

„The Cloverfield Paradox“ aber, als Überraschungscoup auf Netflix statt im Kino gestartet, ist ein strebsam inszeniertes Filmchen, dessen beflissenes Abarbeiten vertrauter Muster nur gähnend langweilig gerät. Die Charaktere (unter anderem Daniel Brühl als Wissenschaftler) bleiben dünner und durchsichtiger als Frischhaltefolie, ganz so, als ginge es nur um Action – oder nur um philosophische Ideen. Ideen aber gibt es keine, und die Action bleibt immer nur Pflichtübung. Der 1983 in Nigeria geborene Regisseur Julius Onah hinterlässt den Eindruck, er könnte eine gelungene Wahl als Second-Unit-Regisseur beim nächsten Roland-Emmerich-Projekt werden. Aber unser Interesse an Menschen und ihren Notlagen wecken und wachhalten, das kann er definitiv nicht.

Nicht der Rede wert wäre das Ganze, hätte nicht die Fraktion der Kinoliebhaber im Internet bereits wieder Alarm geschlagen. Tenor des Aufschreis: Die großen Lichtspielhäuser müssten bald mit Unterversorgung rechnen, schon wieder verramsche das Studio Paramount eine profilierte Produktion – J. J. Abrams!!!! – direkt an Netflix. In diesem Fall kann man nur sagen: Man muss sich eher Sorgen um Netflix machen, wenn sich dessen Programmverantwortliche von großen Namen blenden lassen und einen Schlafteesud wie „The Cloverfield Paradox“ als Prestigeware übernehmen.

Streit ums Niveau

Ganz anders sieht die Sache bei „Annihilation“ aus, dem neuen Film von Alex Garland („Ex Machina“) mit Natalie Portman und Oscar Isaac. „Annihilation“ wird Paramount ebenfalls nicht ins Kino bringen, sondern an Netflix abschieben. Ja, man würde das neue Werk des derzeit interessantesten Regisseurs für Science-Fiction-Themen gern auf der großen Leinwand erleben. Aber ist Netflix wirklich die böse Krake, die mit ihren vielen Fangarmen dem darbenden Kino das beste Futter vor der Nase wegschnappt, wie die wütenden Großbild-Enthusiasten im Netz klagen? Der Fall liegt ganz anders.

„Annihilation“, die Geschichte einer Expedition zur Erkundung einer vielleicht endzeitlichen Bioseuche, basiert auf einem Roman des Amerikaners Jeff Vandermeer. Der gilt als ein kluger, unkonventioneller, die Leser ungewöhnlich stark herausfordernden Meister der modernen Fantastik. Hollywood musste eigentlich wissen, dass die Kombination Garland-Vandermeer kein Popcornfilmchen ergeben würde. Von den zwei beteiligten Produzenten, Scott Rudin („Die Truman Show“, „No Country for old Men“, „Grand Budapest Hotel“) und David Ellison(„Terminator Genisys“, „Geostorm“) scheint das aber nur Rudin klar gewesen zu sein.

Erste Testvorführungen mit vom Shoppingcenter-Bummel weggelockten Zufallsguckern verliefen jedenfalls unschön. Rudin blieb gelassen, Ellison wurde unruhig und verlangte Umschnitte und Nachdrehs. Im Klartext: einen grundsätzlich anderen Film. Garlands Werk war ihm „zu verkopft“.

Recht auf Endschnitt

Im normalen Lauf der Hollywood-Geschäfte wäre nun zwar etwas mit mehr oder weniger viel Werbepomp auf die Leinwand gekommen. Aber eben nicht Garlands Film, sondern eine verstümmelte, verzerrte Variante desselben. Scott Rudin aber hat sich im Vertrag das Recht des Endschnitts vorbehalten. So konnte Ellison seine Änderungswünsche nicht erzwingen. Aber als wichtiger Geschäftspartner von Paramount konnte er auch seinen Unmut zum Tragen bringen. So verkaufte Paramount den Film an Netflix, für eine Summe recht nahe an den 55 Millionen Dollar Produktionskosten. So ist einerseits Garlands künstlerische Vision intakt geblieben, andererseits der schmerzhafte Verlust abgewendet worden, den Ellison schon sicher wähnte.

Von der Mär, Netflix plündere den Filmnachschub des Kinos, bleibt also auch im Fall „Annihilation“ nicht viel übrig. Das Kino schafft sich seine Probleme schon selbst. Und Netflix wäre vielleicht besser beraten, sich auf sein Seriengeschäft zu konzentrieren, als dem fragwürdigen Prestigegewinn durch Kinofilme nachzujagen.