Trotz eines Arbeitsplatzes sind viele Menschen auf Sozialleistungen angewiesen: Etwa 860 000 müssen aufstocken. Besonders häufig davon betroffen sind Alleinerziehende, wie eine neue Studie zeigt.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Sozialleistungen trotz Arbeit? Das ist in Deutschland durchaus üblich. Mehr als jeder fünfte Leistungsbeziehende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II – konkret 22 Prozent – ist 2021 einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Insgesamt belief sich die Zahl der Aufstocker im Juni dieses Jahres auf rund 860 000 Menschen, wie eine Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigt.

 

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Wie aus einer Langzeitanalyse für die Jahre 2010 bis 2018 hervorgeht, waren fast ein Drittel aller Leistungsbeziehenden, die in einer Familie mit Kindern leben, in diesem Zeitraum erwerbstätig. Dabei dürfen sie aufgrund der Anrechnungsregeln im SGB II nur einen kleinen Teil ihres Einkommens behalten und kein Vermögen ansparen. Besonders betroffen sind Alleinerziehende. Unter allen Haushaltsformen weisen sie das höchste Risiko auf, ihr Arbeitseinkommen aufstocken zu müssen: Mehr als jede oder jeder sechste erwerbstätige Alleinerziehende bezieht zusätzlich SGB-II-Leistungen.

Hohe Motivation wird konterkariert

„Alleinerziehende haben eine hohe Motivation, erwerbstätig zu sein, doch für sie ist es besonders schwer, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren“, sagt die Bertelsmann-Expertin Anette Stein. Es sei „erschreckend, dass ein so hoher Anteil der Alleinerziehenden trotz Arbeit auf Transferleistungen angewiesen ist, um das Existenzminimum zu sichern“.

Je geringer die Arbeitszeit und je niedriger der Stundenlohn ausfallen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, zusätzlich SGB-II-Leistungen beziehen zu müssen. Von allen Aufstockern üben fast die Hälfte (46 Prozent) eine geringfügige Beschäftigung aus, und gut drei Viertel erhalten einen Niedriglohn. Bei Alleinerziehenden steigt das Aufstockerrisiko steigt erheblich, wenn sie einer Beschäftigung mit geringem Verdienst oder nur in Teilzeit nachgehen. Aufgrund der oftmals alleinigen Fürsorgeverantwortung für ihre Kinder bleibe ihnen oft aber keine andere Wahl, so die Studienautoren.

Kinder vergrößern die Risiken der Bedürftigkeit

Haushalte mit Kindern haben demnach gegenüber kinderlosen Paaren und Alleinstehenden eine höhere Wahrscheinlichkeit, trotz Arbeit SGB-II-Leistungen beziehen zu müssen. Dazu komme es insbesondere dann, wenn Kinder unter zwölf Jahren im Haushalt leben. „Jüngere Kinder benötigen zumeist mehr Zeit und Fürsorge – doch vielfach fehlten Betreuungsangebote, die es insbesondere Alleinerziehenden ermöglichen würden, einen Beruf in Vollzeit oder wie in der Schichtarbeit zu bestimmten Zeiten auszuüben“, sagt Stein.

Weniger Aufstocker in der Pandemie

Im Zuge der Pandemie ist der Anteil der Aufstocker an den SGB-II-Beziehern zurückgegangen, 2019 lag er noch bei über 26 Prozent. Als zentralen Grund dafür sehen die Experten von IAB und Bertelsmann den Wegfall Tausender Jobs in Dienstleistungsbereichen wie dem Gastgewerbe, in denen viele Aufstocker beschäftigt sind. Dies betrifft auch die aufstockenden Alleinerziehenden, deren Zahl sich ebenfalls verringert hat. Zudem sei die Vereinbarkeit von Arbeit und Kinderbetreuung infolge Corona zu einem noch größeren Problem für Alleinerziehende geworden, so Stein. „Daher ist davon auszugehen, dass viele von ihnen zugunsten der Care-Arbeit den Job aufgeben und komplett in den SGB-II-Bezug wechseln mussten.“

Kindergrundsicherung könnte Abhilfe schaffen

Wie lässt sich die Not lindern? Für alle Familien ließe sich die Situation durch eine Kindergrundsicherung verbessern, wie sie die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart hat, rät die Bertelsmann-Stiftung. Empfohlen wird die Einführung eines Teilhabegeldes, das finanzielle Leistungen für Kinder bündelt, einfach zu beantragen ist und mit dem Einkommen der Eltern abgeschmolzen wird. Dadurch ließe sich Kinderarmut wirksam vermeiden, heißt es.

Aufgrund des hohen Aufstocker-Risikos für geringfügig Beschäftigte wird auch eine Reform der Minijobs gefordert. Die von der Ampelkoalition geplante Anhebung der Einkommensgrenze auf 520 Euro werde die Minijob-Falle für Frauen und Mütter und damit das Aufstockerrisiko eher verschärfen, heißt es. An diesem Vorhaben gibt es aus der Wirtschaftswissenschaft und von den Gewerkschaften ohnehin schon eine breite Kritik.

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