Sie ist 130 Meter lang, nach einer Schule benannt, die es nicht mehr gibt, und wird irrtümlich oft als erste deutsche Fußgängerzone bezeichnet: Auf der Schulstraße in Stuttgart ballt sich städtisches Leben.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - In weißen Lettern steht „Union“ auf dem Dach des Gebäudes, das am Ende einer autofreien Gasse mehrgeschossig in die Höhe ragt. Nein, es handelte sich dabei nicht um die Parteizentrale von Adenauers Union, es war ein Kauftempel der Wirtschaftswunderzeit in Stuttgart. Bis 1963 behielt das Warenhaus den Namen Union, ehe es nach dem Namen des jüdischen und von den Nazis verfolgten Gründers Hermann Tietz zu Hertie geworden ist.

 

Aus Hertie wurde Karstadt, aus Karstadt Primark – die Schulstraße aber ist die ewige Konstante. Ihren Namen besitzt sie schließlich seit dem Mittelalter. Die Schule, nach der die Straße benannt ist, gibt es schon lange nicht mehr. Auch die alte Pracht der Fachwerkhäuser ist Vergangenheit, von den Bomben des Zweiten Weltkriegs zerstört.

Kassel war noch etwas früher autofrei

Die Schulstraße verbindet die Königstraße mit dem Marktplatz. Sie überbrückt einen Höhenunterschied, der auf den Stadtwall zurückzuführen ist, der im Mittelalter das alte Stuttgart umschlossen hat. Neben dem Wall stand die Stadtmauer. Einstmals war die Schulstraße daher eine Sackgasse.

In der Stadtgeschichte spielt die Gasse, die heute mit Hamburgern und Heringsbrötchen als „Fressmeile“ verspottet wird, keine unerhebliche Rolle. Und bundesweit hat man ihr in den 1950er Jahren Vorbildsfunktion zuerkannt. Die Schulstraße war Wegbereiter fürs Verbannen von Autoblech aus Einkaufsstraßen. Dass die Stuttgarter bei abgasfreien Zonen die Nase vorne hatten, wie dies immer wieder kolportiert wird, ist freilich nicht ganz korrekt. Die erste Fußgängerzone in Deutschland gab es schon vor dem Krieg in Essen (Limbecker Straße von 1927 an). Nach dem Krieg war 1953 die Treppenstraße in Kassel die Nummer eins, danach kam die Holstenstraße in Kiel – noch vor der Schulstraße, die im November 1953 autofrei geworden ist. Doch den Ehrentitel, die erste Fußgängerzone auf zwei Ebenen zu besitzen, kann man Stuttgart nicht nehmen.

Unvergessen ist der Kartenverkäufer der Schulstraße

Im Facebook-Forum unseres Stuttgart-Albums erinnert man sich gern an frühere Zeiten der Schulstraße. Gisela Salzer-Bothe etwa schreibt: „Die Firmeninhaber kannten sich gut, das Klima war bestens – etwa mit Metzgerei Haarer, Schmuck Benk, Apotheker, dem Nordsee-Chef, den einarmigen Portier vom Tritschler, Friseur Hörmann, Zigarren Schweiker und natürlich das Schuhgeschäft mit Rutschbahn.“ Ein Mann, der ohne Beine auf einem Kissen saß und Postkarten verkaufte, gehörte zum Stadtbild: Werner Toberer kam aus Pforzheim, verkaufte über 25 Jahre lang seine Karten bis zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 1987. Mitleid, sagte er einmal in einem Zeitungsinterview, wolle er nicht: „Mich akzeptiert man überall, als ob ich ein Gesunder wäre. Es kommt immer auf den Geist an.“ Zu seinem Verdienst sagte er: Im Sommer komme er an guten Tagen auf 300 Mark, im Winter oft nur auf 60 Mark.

Neues Buch zum Stuttgart-Album erschienen

Im Sutton-Verlag (Bruckmann) ist jetzt das neue Buch „Das Beste aus dem Stuttgart-Album“ mit Texten von Uwe Bogen und vielen Fotos unserer Leser erschienen.

Im neuen Band sind die Themen des Geschichtsprojekts enthalten, die für besonders große Begeisterung und für die meisten Klickzahlen gesorgt haben. Es ist das Best-of-Album einer immer aufs Neue überraschenden Zeitreise. Gewürdigt wird der 150. Geburtstag der Stuttgarter Straßenbahnen AG, die 2018 ein Jubiläum ebenso groß feiern kann wie das Cannstatter Volksfest, das 200 Jahre alt wird. Es geht um Baustellen, die Stuttgart in den 1970er-Jahren geprägt haben, also nicht nur heute ein Ärgernis sind. Man sieht den Hauptbahnhof in voller Blüte, noch nicht vom Streit um Stuttgart 21 belastet, vom Trauerspiel mit immer steigenden Baukosten und weiteren Bauverzögerungen. Erzählt werden die Abenteuer des Young People Clubs der 1960er-Jahre in einem Keller sowie Flughafengeschichten aus dem längst abgerissenen Terminal mit den legendären Treppen.

Dem Nachlass des langjährigen Fernsehredakteurs Edgar Burkhardt verdankt das Geschichtsprojekt faszinierende Nachkriegsaufnahmen, die in den Nachrichten der „Landesschau“ zu sehen waren – es sind Standbilder einer bewegten Zeit. Seine Witwe Brunhilde Bross-Burkhardt hat dem Stuttgart-Album diese einzigartigen Bilddokumente anvertraut. Ein besonderes Dankeschön geht auch an Udo Becker, Wibke Wieczorek, Michaela Klapka, Thomas Mack, Günther Schaile, Eberhard Kenner, Marcelo Lagos und Wolfgang Müller, die zu den eifrigsten Fotolieferanten gehören. Als privates Projekt ist das Stuttgart-Album bei Facebook im September 2012 gestartet. Diskutieren Sie mit unter www.facebook.com/Album.Stuttgart