Gerti Henle aus Stuttgart-Degerloch hält in ihren Büchern Erinnerungen fest, die ihr Menschen anvertrauen. Ihre Gesprächspartner wollen ihr Leben für sich selbst und für ihre Nachkommen dokumentieren. Dabei erfährt sie viel...

Degerloch - Wie kommt man auf die Idee, die Lebensgeschichten anderer Menschen aufzuschreiben? Gerti Henle hat auf diese Frage eine klare Antwort: durch die eigene Großmutter. 94 Jahre war sie alt, als sie ihrer Enkelin ihre Lebensgeschichte anvertraute. Ein Jahr lang nahm Henle sich frei, um die Geschichte aufzuschreiben. Bald danach verstarb die Großmutter mit 95 Jahren. „Sie war gottfroh, dass ihr jemand zugehört hat“, erinnert sich Henle. Auch wenn das hohe Alter das Erinnern erschwerte, teils auch verhinderte, entpuppte sich das Projekt für beide als gewinnbringend – denn es förderte längst vergessene Geschichten zutage.

 

Lebensgeschichten festzuhalten, werde wichtiger, glaubt Gerti Henle. Denn das früher übliche Geschichtenerzählen innerhalb der Familien ist längst nicht mehr verbreitet. Ohne ein schriftliches Dokument gehen auf diese Weise jedoch Wissens- und Erfahrungsschätze der älteren Generationen unwiederbringlich verloren.

Für die Erzählenden schließt sich ein Kreis

Dabei seien die Menschen interessiert am Schicksal ihrer Vorfahren, hätten oft aber nicht die Zeit, sich hinzusetzen und aufzuschreiben, was die ältere Generation zu sagen hat. Oft sind es daher Kinder oder Enkelkinder, die mit dem Wunsch auf die Biografin zukommen, ein Buch über Eltern, Groß- oder Urgroßeltern zu schreiben. Aber was haben die Menschen überhaupt davon, dass jemand ihre Geschichte aufschreibt? Für die Protagonisten, die Henle aus ihrem Leben erzählen, schließt sich ein Kreis. „Viele erinnern sich für sich selbst. Sie machen damit ihre Lebensgeschichte rund“, so die Autorin. Nicht selten sprächen sie Dinge aus, die sie bis dahin für sich behalten hatten – eine Lebensbeichte oder ein kleines Geständnis.

Mindestens genauso groß dürfte der Wert sein, den die Dokumente für die jüngeren Generationen haben, glaubt die 48-Jährige. „Es ist ein wichtiger Baustein für die Nachkommen.“ So schildert eine Heimatvertriebene in einem Buch ihr von zahlreichen Auf- und Umbrüchen geprägtes Leben, das vom Sudetenland über Ostberlin schließlich im Südwesten mündete. „Die Enkelin der Frau hatte keine Vorstellung davon, was ihre Großmutter mitgemacht hat“, so Henle. Auf dem Buchcover sind die geografischen Stationen ihres Lebens als miteinander verbundene Punkte markiert; schlägt man die erste Seite auf, kommen die Ortsnamen hinzu. Die grafische Aufbereitung der Bücher ist Gerti Henle wichtig. Sie soll den Lebensgeschichten Rechnung tragen.

Ein Jahr dauert ein Projekt meistens

Henle selbst, die aus Hermannstadt in Siebenbürgen stammt, bezeichnet es als „Geschenk“, an den Erinnerungen der Menschen teilhaben zu dürfen. Ein Jahr dauere es meist – inklusive der Produktion – bis ein Lebensbuch entsteht. Mit ihren Gesprächspartnern trifft sie sich in Abständen von mehreren Wochen. Zwei Stunden hört sie genau hin. Dann lässt meist die Konzentration der Erzählenden nach. Denn es ist anstrengend, sich aktiv zu erinnern, gleichzeitig aber sehr erkenntnisreich. „Viele Menschen merken erst durch die Reflexion im Nachhinein, wie sehr ihre Kindheit sie geprägt hat“, sagt Henle.

Das Erzählte straffen, einen roten Faden herausarbeiten: Darin sieht die Biografin neben der Schreibarbeit ihren Part. „Natürlich kann man nicht ein ganzes Leben aufschreiben, das wäre eine Illusion“, sagt sie. Die Deutungshoheit liege indes einzig bei den Menschen, die Frage nach „der“ Wahrheit, wie sie klassische Biografien stellen, spiele in den Lebensbüchern eine untergeordnete Rolle. Ob die Erzählung mit historischen Fakten übereinstimmt, prüft sie nur, wenn jemand persönliche Ereignisse mit bestimmten Jahreszahlen verknüpft. Alles andere überlässt sie der subjektiven Lebenswahrheit der Erzählenden, denn es ist ja ihr persönliches Lebensbuch.