Auf Du und Du mit der Geschichte: Arno Geigers Roman „Unter der Drachenwand“ steht im Zentrum des Lesefestivals „Stuttgart liest ein Buch“.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Dieses Buch sollte sich niemand entgehen lassen, und wer es schon kennt, tut gut daran, jede Gelegenheit zu nutzen, ihm wieder zu begegnen. Denn Arno Geigers Roman „Unter der Drachenwand“ erzählt zwar vom Leben im Bann der vergangenen Katastrophen deutscher Geschichte, aber so, dass man sich als Leser in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wiederfindet. Das Lesefestival „Stuttgart liest ein Buch“ nimmt dieses Nachbarschaftsverhältnis beim Wort und macht im Herbst mit einem reichhaltigen Veranstaltungsparcour quer durch die Stadt die Wege gangbar, die Geschichte und Gegenwart miteinander verbinden.

 

Vom 16. bis 27. September lädt das von der Leiterin des Stuttgarter Schriftstellerhauses, Astrid Braun, initiierte Literaturfest zur kollektiven Lektüre dieses großen Romans ein – vielleicht das wichtigste Werk des mit Preisen hochdekorierten österreichischen Autors. „Unter der Drachenwand“ handelt vom Soldaten Veit Kolbe, der im letzten Kriegsjahr 1944 einen mehrmonatigen Erholungsurlaub am Mondsee im Salzkammergut bewilligt bekommt. Der Krieg ist in dem ländlichen Fluchtwinkel nur indirekt präsent, und gerade deshalb kommt Geiger der befremdlichen Alltäglichkeit im Einzugsbereich eines alle Normen sprengenden Schreckens so nah.

Für Astrid Braun ist der Roman des 1968 in Bregenz geborenen Österreichers denn auch weitaus mehr als ein Kriegsroman: „‘Unter der Drachenwand‘ ist auch ein Liebesroman. Arno Geiger zeigt uns die Innensicht einer existenziellen Situation“, sagt die rührige Impresaria, die das Festival in diesem Jahr bereits zum vierten Mal organisiert. Dank ihres Engagements wurden die Stuttgarter Kessel-, Halbhöhen- und Hügelbewohner 2012 mit Margriet de Moors Roman „Sturmflut“ zu Kennern maritimer und menschlicher Extremzustände. Zwei Jahre später erweiterte Judith Schalanskys „Hals der Giraffe“ den evolutionsbiologischen Horizont der städtischen Leser um Wendehälse und Starrköpfe. Zuletzt schweifte der Blick mit Shida Bazyars Roman „Nachts ist es leise in Teheran“ in den Iran.

Spaziergang auf den „Monte Scherbelino“

Für den Roman „Es geht uns gut“ hat Arno Geiger vor 14 Jahren den erstmals vergebenen Deutschen Buchpreis erhalten. „Unter der Drachenwand“ zieht die damals gezogene Lebenslinie weiter: Kinderlandverschickung, 1944, Mondsee, das Wirtshaus mit dem Namen Schwarzindien – all dem ist man bereits früher Werk begegnet. Es ist beinahe so, als wäre Geiger, diesem Visionär des Dokumentarischen, beim Stöbern auf dem Dachboden der Erinnerung ein weiterführendes Konvolut in die Hände gefallen. Dazu passt, dass der Autor dem Stuttgarter Stadtarchiv schon einmal als ersten Gruß zwei in seinem Besitz befindliche Briefe aus jenen Kriegstagen überlassen hat.

Astrid Braun freut sich ganz besonders, dass sich Geiger fünf Tage lang in Stuttgart aufhalten wird – für einen Autor seines Ranges beileibe keine Selbstverständlichkeit. Woran das liebevoll durchdachte und inspirierte Programm seinen Anteil haben mag: Es wird – wie jedes Mal bei „Stuttgart liest“ – an unterschiedlichen Orten wie im Luftschutzbunker Feuerbach oder im Dorotheen-Quartier unter freiem Himmel vorgelesen. Die Wege führen ins Hotel Silber, um über die geschichtlichen Hintergründe zu diskutieren; eine ganze Schule, das Evangelische Heidehof-Gymnasium, pilgert via Lektüre zur Drachenwand, und bei einem Spaziergang auf den „Monte Scherbelino“ wird an die Zerstörung Stuttgarts im Jahr 1944 erinnert.

Jetzt, an diesem Freitag, erscheint die Taschenbuchausgabe des Romans in einer Sonderausgabe mit einem Vorwort des Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn sowie das umfangreiche Programmheft. Wer mit literarischen Kopfreisen nichts am Hut, hat versäumt viel, lässt sich aber vielleicht von einem literarischen Preisausschreiben locken – zu gewinnen ist eine Reise an den Schauplatz des Romans.