Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat gegen einen 93 Jahre alten ehemaligen SS-Wachmann des Konzentrationslagers Auschwitz Anklage erhoben. Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zum Mord.

Stuttgart - Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat gegen einen 93 Jahre alten ehemaligen SS-Wachmann des Konzentrationslagers Auschwitz Anklage erhoben. Der Vorwurf gegen den mutmaßlichen Nazi-Verbrecher lautet auf Beihilfe zum Mord, wie die Behörde am Donnerstag mitteilte. Zuständig ist das Landgericht Ellwangen, da der Mann zuletzt im Ostalbkreis lebte. Seit Mai sitzt er in Untersuchungshaft. Zu den Vorwürfen hat er sich nach Angaben der Staatsanwaltschaft bisher nicht geäußert.

 

Laut Anklage hatte der Mann in der Zeit zwischen 1941 und 1943 Wachbereitschaft im Konzentrationslager Auschwitz. Durch seine Tätigkeit habe er „den Lagerbetrieb und damit die Vernichtungsaktionen unterstützt“, hieß es. Während seiner Wachzeit seien in Auschwitz zwölf Transporte mit tausenden Gefangenen eingegangen. In vielen Fällen seien nicht arbeitsfähige Menschen sofort aussortiert und in den Gaskammern getötet worden.

Lipschis lebt im Ostalbkreis

Bei dem Beschuldigten handelt es sich um den gebürtigen Litauer Hans Lipschis. Laut Staatsanwaltschaft lebte der Mann nach Kriegsende zunächst in Norddeutschland, wanderte 1956 aber nach Chicago (USA) aus. „Nachdem dort Anfang der 80er Jahre bekanntgeworden war, dass der Angeschuldigte entgegen seinen Angaben im Einbürgerungsverfahren als SS-Mitglied zur Lagermannschaft von Auschwitz gehörte, wurde ihm in einem Ausbürgerungsverfahren die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt“, hieß es. Ende 1982 wurde er aus den USA ausgewiesen, lebte seither im Ostalbkreis.

Bei sechs der Transporte aus Holland waren laut Staatsanwaltschaft 4429 Gefangene sofort nach ihrer Ankunft im Lager umgebracht worden, bei zwei Transporten aus Berlin 1005 Menschen. „Aus Theresienstadt erreichten während des Wachdienstes des Angeschuldigten zwei Transportzüge Auschwitz, von denen 3303 Gefangene sofort in den Gaskammern ermordet wurden“, schreibt die Behörde. Bei einem weiteren Transport aus Belgien seien 1375 Menschen umgebracht worden, bei einem aus Frankreich 398.

Beihilfe zum Mord neu definiert

Bisher blieben viele mutmaßliche NS-Täter straffrei, weil der Bundesgerichtshof 1969 im Fall Auschwitz festgelegt hatte, dass für eine Verurteilung der Wächter wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld nachgewiesen werden musste. Dies war vielfach nicht möglich. In den Vorermittlungen für den Prozess gegen John Demjanjuk, Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, hat die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg die Beihilfe zum Mord im KZ Auschwitz aber neu definiert. Demnach ist jeder belangbar, der in einem KZ dazu beigetragen hat, dass die Tötungsmaschinerie funktionierte - egal ob an den Gaskammern oder als Koch.

Im September kündigte die Fahndungsstelle an, 30 Verfahren an Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland abzugeben. Ein Fall davon ist der Fall Lipschis.

Was macht die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg?

Die „Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg wurde 1958 gegründet. Sie soll NS-Täter ermitteln und mit Hilfe der Staatsanwaltschaften vor Gericht bringen. Sie lieferte das Material für etliche NS-Verfahren. Sie ermöglichte etwa die Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren in Frankfurt, den Majdanek-Prozess in Düsseldorf sowie den Demjanjuk-Prozess in München.

Auch für Wissenschaftler sind die Bestände der Stelle interessant: Der US-Politologe Daniel Goldhagen etwa wertete für sein heftig umstrittenes Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ vor allem Ludwigsburger Bestände aus und arbeitete 14 Monate lang dort. Leiter der von allen Bundesländern finanzierten Behörde ist seit dem Jahr 2000 der Leitende Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Derzeit hat die Stelle noch 18 Mitarbeiter, zu Spitzenzeiten waren es bis zu 120.

Die Zentralkartei enthält rund 1,66 Millionen Karteikarten, die nach Personen, Tatorten und Einheiten gegliedert sind. Die gesonderte Dokumentensammlung besteht aus mehr als 558 300 Kopien.