Während die Büros der Tech-Firmen sich in Spielplätze für Erwachsene verwandelt haben, achten hiesige Tüftler bei der Frage, wie wir morgen arbeiten wollen, auf ganz andere Aspekte: zum Beispiel auf Enkeltauglichkeit. Betrachtungen zum Thema „New Work“.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Wer bei der Agentur Pulsmacher in Ludwigsburg in der Mittagspause eine Gemüselasagne bestellen möchte, sollte des Englischen mächtig sein. Karl Francis hat früher ein Restaurant in London betrieben. Wenn er nicht gerade für Pulsmacher kocht, arbeitet er als DJ. Weiter entfernt von der deutschen Mahlzeit-Kantinen-Unkultur könnte man nicht sein. Das Bestellen des fleischfreien Mittagstisches steht dabei stellvertretend für eine Form des Büros, die mit der deutschen Großraumbürokratie so viel gemeinsam hat wie Ludwigsburg mit London.

 

Pulsmacher, einst gestartet als Zwei-Mann-Betrieb im Dunstkreis der Stuttgarter Partykultur, beschäftigt heute mehr als 20 Mitarbeiter. Die Agentur ist spezialisiert auf Events, Werbung und Promotion – und neuerdings auch auf die Revolution der Bürogestaltung. Vor Kurzem hat Pulsmacher neue Räume bezogen und dabei aus der Not eine Tugend gemacht. „Wir mussten und wollten aus unseren alten Räumen in Ludwigsburg heraus. Dabei haben wir uns entschieden, für ein Jahr in ein Pop-up-Büro zu ziehen“, erklärt Jens Kenserski, einer der beiden Geschäftsführer.Das Ergebnis ist Spielwiese und Experiment zugleich. „Wir wollen herausfinden, wie wir in Zukunft arbeiten, wie sich Teams finden, wie man Familie und Beruf vereinbaren kann“, sagt Thorsten Weh.Die bisherigen Bürostrukturen habe man unter den Stichwörtern „ökonomisch, ökologisch, sozial“ auf den Prüfstand gestellt: Der firmeneigene Fuhrpark besteht aus E-Bikes, die Arbeitszeiten sind flexibel. Vom Druckerpapier bis zu den Events: Kenserski und Co. setzen auf Recycling-Materialien. Für das neue Büro wurden außerdem keine teuren Möbel angeschafft, stattdessen sorgen Bäckereikörbe als Regale für die richtige Off-Location-Atmosphäre.

Bäckereikörbe als Regale sorgen für die richtige Off-Location-Atmosphäre

Keiner der Mitarbeiter bei Pulsmacher hat einen festen Schreibtisch, auch die beiden Geschäftsführer Kenserski und Jochen Schroda nicht. Nach dem Modell „Shared Desk“ sucht sich jeder Mitarbeiter jeden Morgen seinen Arbeitsplatz aus. „Der Vorteil: keiner kann mehr seine Unterlagen abends einfach so herumfahren lassen“, sagt Kenserski und zeigt die weiteren Räume der Agentur.

Spielplatz für Erwachsene versus Zellenstruktur der Vergangenheit

Die Decke eines Besprechungsraumes sieht aus, als wäre sie Teil des Bühnenbildes einer Oper. Der Schreibtisch war im letzten Leben Teil eines Pferdestalls auf der Schwäbischen Alb. Auf dem Tisch liegt eine Papierrolle im Din-A1-Format. „In diesen Raum muss keiner einen Block mitbringen. Stattdessen brainstormen wir gemeinsam auf dieser Rolle“, sagt Kenserski und fügt an, dass das gesamte Raumkonzept einmal im Quartal auf den Prüfstand kommt. Wie und wo die Agentur nach Ablauf ihres Pop-up-Büros arbeiten wird, ist noch nicht klar. Sicher dagegen ist, dass Pulsmacher schon jetzt seine Erfahrungen mit der „New Work“ weitergibt. Derzeit berät die Agentur Firmen wie Mercedes oder Bosch bei der Umgestaltung von Büros.

Beim Thema Arbeiten 4.0 ist auch Desiree Behrens eine Expertin. Behrens studierte Architektur und Stadtplanung. Mittlerweile ist sie bei Scope Architekten in Stuttgart tätig, deren inhaltlicher Schwerpunkt im Bereich der „Corporate Architecture“ liegt. „In der Gestaltung von Büro-Architektur sind zwei Extreme zu beobachten: Einerseits bieten Firmen wie Apple Arbeitsplätze an, die aussehen wie Spielplätze für Erwachsene. Auf der anderen Seite hängen gerade deutsche Mittelständler noch sehr an der Zellenstruktur aus längst vergangenen Bürotagen“, so Behrens. Einer von Scopes Kunden ist der Software-Riese SAP. „Für SAP setzen wir einerseits eine offene Arbeitswelt um, die Kollaborationen fördert. Andererseits erarbeiten wir Zonen, die unterschiedliches Arbeiten ermöglichen.“ Ein Programmierer habe andere Ansprüche an seinen Arbeitsplatz als sein Kollege aus dem Marketing.

Die Firma Wizemann steht sinnbildlich für den Wandel der Arbeitswelt

Wer sich mit einer Expertin wie Behrens über das Arbeiten 4.0 unterhält, hört immer wieder den Begriff Open Space, eine etwas euphemistische Umschreibung für das Großraumbüro, diese tragische Erfindung der halbmodernen Arbeitswelt. „In einem Open Space muss es unbedingt Rückzugsmöglichkeiten für kleinere Runden geben, schallgeschützte Thinktanks, denn 30 bis 40 Leute, die in einem Raum innovativ sein sollen, das ist nicht möglich.“

Constantin Wizemann ist sich nicht sicher, ob die Arbeitswelt derzeit wirklich auf den Kopf gestellt wird, oder ob sich in fünf Jahren keiner mehr für Begriffe wie Open Space interessiert. Wizemann ist aus zwei Gründen ein wichtiger Gesprächspartner, wenn es um die Veränderung der Arbeitswelt geht. Zum einen steht seine Familie sinnbildlich für den Wandel: Früher war die Firma Wizemann mit der Entwicklung, Konstruktion und Herstellung von Automobil-Bauteilen beschäftigt, Wizemanns Vater Julius hatte 1000 Angestellte. Heute liegt der Fokus der Firma auch auf der Neugestaltung von Räumen und Arbeitswelten: Die Umwandlung der ehemaligen Produktionsstätte oberhalb von Bad Cannstatt in eine Konzertspielstätte mit zwei Hallen – und einen Coworking-Space – hat über Stuttgart hinaus für Aufsehen gesorgt.

Coworking als Zeichen gegen die Ellbogengesellschaft

Constantin Wizemann versucht in seiner Coworking-Area den Gedanken des „social impacts“ zu verwirklichen. „Wir wollen ein Zeichen gegen die Ellbogengesellschaft und für mehr Verbindlichkeit setzen“, sagt Wizemann. „Nachhaltigkeit ist ein verbrauchtes Wort, der Begriff der Enkeltauglichkeit trifft unseren Ansatz aber gut. Wir fragen unsere Mieter, inwieweit ihre Arbeit das Leben unserer Enkel positiv beeinflussen wird.“ Die Initiative „One-Dollar-Glasses“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen in Entwicklungsländern mit bezahlbaren Brillen auszustatten, nutzt den Wizemann Space genauso wie der Verein „Offene Gesellschaft“, der hier etwa die Fahnen für einen Autocorso für das Grundgesetz produziert.

Der 44-jährige Wizemann reist einmal im Jahr nach Kalifornien und schaut sich dort andere Coworking-Projekte an. Viele der Initiativen haben einen inhaltlichen Schwerpunkt: „In Oakland haben sich im Coworking-Space zum Beispiel Initiativen gegen Obdachlosigkeit gebündelt.“ Für Wizemann selbst lohnt sich sein „Space“ auch unter ganz anderen Gesichtspunkten: „Für die Ansiedlung von neuen Mietern auf unserem Areal ist unser Coworking oft das ausschlaggebende Argument.“ Die neue Form der Arbeit sei ein Synonym für eine Start-up-Kultur, der auch viele Konzerne mittlerweile verzweifelt hinterherjagen. So hat Daimler im Wizemann-Areal ein ganzes Stockwerk angemietet, in dem an der Unternehmenskultur von morgen getüftelt wird. Der Reiz der schönen neuen Arbeitswelt verzaubert scheinbar auch Konzernriesen wie Daimler.

Mehr zum Thema