Fünf Jahre nach dem 30. September 2010 bekommt der schwer verletzte Dietrich Wagner recht. Dass sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei ihm für den Schwarzen Donnerstag entschuldigt, berührt die Ikone des S-21-Protests.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Ein Stück Schokoladentorte soll dem Termin womöglich die Bitterkeit nehmen. Serviert wird das Backwerk in der Villa Reitzenstein. In der holzgetäfelten Bibliothek des Amtssitzes des Ministerpräsidenten tritt an jenem Abend im Dezember der Landesvater sechs Klägern gegenüber, die vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart die Unrechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes im Stuttgarter Schlossgarten haben feststellen lassen – fünf lange Jahre nach dem sogenannten Schwarzen Donnerstag. Kretschmann will sich entschuldigen für den Vorgang, der noch in der Verantwortung der Vorgängerregierung geschehen ist.

 

Einer der Adressaten der Entschuldigung ist Dietrich Wagner. Die Bilder, die zeigen, wie der von Wasserwerfern schwer an den Augen verletzte Rentner aus dem Schlossgarten geführt wird, sind Symbole des vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz zur Räumung des Schlossgartens geworden. Dort wollte die Bahn im September 2010 mit Arbeiten für den Tiefbahnhof beginnen.

Zwei Wochen nach seinem Besuch in der Halbhöhe des Stuttgarter Ostens sitzt Wagner auf dem Sofa seiner Wohnung im Westen und sinniert, ob 2015 wirklich ein außergewöhnliches Jahr für ihn gewesen ist. Während die Arbeiten am Projekt Stuttgart 21 weitergehen, ist auch die juristische Aufarbeitung des Schwarzen Donnerstags ein gutes Stück voran gegangen. Im März hatte Siegfried Stumpf, Polizeipräsident zu Zeiten der Schlossgartenräumung, einen Strafbefehl akzeptiert. „Fahrlässige Körperverletzung im Amt durch Unterlassen“, lautete der Vorwurf an den einst höchstrangigen Polizisten Stuttgarts. Verletzungen, die Wagner weiterhin in Rage bringen. „Ich muss doch in einer Demokratie erwarten können, dass ich mittags auf eine Demo gehe und abends immer noch unverletzt bin“, sagt Wagner.

Wagner hat die öffentliche Entschuldigung lang gefordert

Fünf Jahre hat es gedauert, bis sich der Staat dafür entschuldigte, diese Selbstverständlichkeit am 30. September 2010 nicht gewährleistet haben zu können. Das ist für den heute 71-jährigen Wagner nur ein weiteres Indiz dafür, dass in diesem Lande einiges schief läuft. „Ich habe die Entschuldigung schon einige Wochen nach dem Schwarzen Donnerstag gefordert, als ich bei Günther Jauchs Jahresrückblick zu Gast gewesen bin.“ Tatsächlich hatte er weder vom damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus noch von Polizeichef Siegfried Stumpf ernsthaft mit Worten des Bedauerns gerechnet. Dass nun der Politiker Winfried Kretschmann diese Worte gefunden hat, bewegt Wagner umso mehr: „Ich fand es hervorragend von ihm, dass er sich für etwas entschuldigt, wofür er gar nicht verantwortlich ist.“

Den Prozess hat Wagner als belastend empfunden

Das vom Landeschef zum Ausdruck gebrachte Mitgefühl ist für Wagner der Schlussakkord in einem Dreiklang an Genugtuung, den 2015 für ihn bereitgehalten hat. Den Auftakt machte der Strafbefehl für Stumpf. Im November widerfuhr Wagner und seinen Mitstreitern für sie kaum mehr erwartete Gerechtigkeit vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart. Die Juristen urteilten, der Einsatz im Schlossgarten sei nicht rechtens gewesen.

Der Termin im Gerichtssaal sei mit dem Treffen in der Villa Reitzenstein aber nicht vergleichbar gewesen, sagt Wagner. Dennoch: „Ich war richtig erlöst, als der Richter sein Urteil verkündet hat.“ Dies um so mehr, „weil wir mit der Stuttgarter Justiz keine guten Erfahrungen gemacht haben“. Im Januar 2016 sollen die Verhandlungen über eine Entschädigung beginnen. Mit dem im Jahr 2014 geführten Prozess gegen die Wasserwerferbesatzung sei für ihn die Aufarbeitung keinesfalls beendet gewesen. „Aber dass alles 2015 passiert, hätte ich am Anfang des Jahres nicht gedacht“, sagt Wagner. Zwar sei der Prozess vor Gericht belastend gewesen. „Da liegt man abends im Bett und die Bilder aus dem Park tauchen nochmals auf.“ Der Richterspruch sei die Anstrengung und Belastung aber wert gewesen.

Geholfen hat ihm dabei die Unterstützung durch Freunde und Bekannte, die er nicht zuletzt immer wieder auf den Demonstrationen rund um den Stuttgarter Bahnhof trifft – und die er nach wie vor für wichtig hält. Schließlich würden viele kritische Augen mehr sehen als einzelne. Dass ihm selbst das Augenlicht fehlt, schmerzt Wagner nicht nur in diesen Situationen. „Nicht mehr sehen zu können, zieht mich runter und macht mich depressiv.“

Die Entschuldigung ändert nichts an der Meinung zu S 21

Eines ist Dietrich Wagner, der nach wie vor kaum eine Montagsdemo der Projektgegner verpasst, dann doch noch wichtig festzustellen am Ende des für ihn doch besonderen Jahres 2015: „Kretschmanns Entschuldigung hat Stuttgart 21 keinen Deut besser gemacht.“

Was sonst noch im September in Stuttgart geschah

1. September
Die Polizei entdeckt 101 nicht registrierte Flüchtlinge in einem Zug aus München – so viele wie noch nie zuvor.

4. September
Wegen des Sauerstoffmangels im Max-Eyth-See, sind fast eine Tonne tote Fische eingesammelt worden. THW, Feuerwehr und DLRG sind mehrere Tage im Einsatz, um den See mit Frischwasser zu versorgen.

10. September
Land und Stadt prüfen, den denkmalgeschützten Vaihinger Eiermann-Campus für die Registrierung von Asylsuchenden zu nutzen.

10. September
Ein Passant findet am Morgen eine tote 21-Jährige auf dem Pragfriedhof. Die Stuttgarterin ist das Opfer einer Gewalttat. Am Abend nimmt die Polizei einen Tatverdächtigen fest.

12. September
Die Spielstätte Wizemann geht mit zwei Bühnen im Ex-Zapata an den Start und schließt die Lücke, die nach dem Aus der Röhre blieb.

16. September
Die Stadt stellt nach langer Verzögerung kostenloses Wlan an 30 Standorten bereit. In der Innenstadt kann am i-Punkt, am Marktplatz, am Schlossplatz und am Schillerplatz gesurft werden.

26. September
Aufgrund der Flüchtlingskrise plant OB Fritz Kuhn, das Zweckentfremdungsverbot durchzusetzen. Demnach sollen Eigentümer mit bis zu 50 000 Euro bestraft werden, wenn sie Wohnraum lange und ohne Grund leer stehen lassen.