Wie wichtig Clubs zum Erwachsenwerden sind, führt der Schauspieler Ben Hille gewitzt im Kowalski vor. Stuttgart steht vor einem Clubsterben. Ein Besuch an einem Ort des Tanzes ohne Tanz. Im Kowalski ist der Dancefloor nun mit Tischen zugebaut.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Totgesagte leben länger. Der Club Kowalski im Areal der alten Bahndirektion schien mehrfach am Ende – doch Jahr um Jahr gibt’s für den längst geplanten Abriss Aufschub. Nur langsam kommt der Bebauungsplan im Windschatten von Stuttgart 21 voran. Auch Corona konnte der Legende der Nacht bisher nichts anhaben.

 

In anderen Clubs haben sich die Betreiber neue Jobs gesucht. In der Ampel von Baden-Württemberg stehen Clubs auf dunkeldunkelrot wie sonst nur Bordelle. Kowalski-Chef Sascha Mijailovic hat keine Lust, was anderes zu machen. Der Club ist sein Leben. Und er weiß, wie wichtig das Clubleben für junge Menschen ist zum Entdecken und Vorankommen in allen Richtungen, auch zum Entdecken von sich selbst. Am Freitag öffnet der Kowalski-Wirt seinen Club nach sechsmonatiger Zwangspause (seine Terrasse ist schon länger am Start).

Ein Club ohne Tanz ist wie Stuttgart ohne Fernsehturm

Sascha hat den Dancefloor mit Tischen und Stühlen zugebaut, die er sich aus anderen Clubs, etwa aus dem Lehmann, zusammengeliehen hat. Trinken und sich treffen darf man sich wieder. Wer nicht sitzt, muss Maske tragen. Tanzen ist streng verboten.

Ein Club ohne Tanz ist wie Comedy ohne Lacher, wie Stuttgart ohne Fernsehturm. Während die Leute in Fitnessstudios maskenlos schwitzen und schnaufen dürfen, ist in Clubs nur Stillstand im Sitzen erlaubt. In der Enge der Nacht ist die Ansteckungsgefahr nun mal besonders groß.

Streetart-Künstler Sven Schoengarth begrüßt die Gäste

Clubs stehen ohne Perspektive da, illegale Partys mit noch größerem Infektionsrisiko sind die Folge. Im Kowalski tastet man sich langsam an die Normalität heran. „Schnaps und Teer“ steht über der Clubtür, die ins Freie führt, auf die Terrasse, die mit Regenschirmen dekoriert und zur Hälfte überdacht ist. Dort begrüßt Streetart-Künstler Sven Schoengarth die Gäste. Nach der Stuttgarter Krawallnacht Anfang Juli hat er für ein Symbolbild gesorgt, das um die Welt ging. „Create don’t destroy“ schrieb er x-fach auf Holzplatten vor zerstörten Läden. Weit über die Randalestadt hinaus waren Fotos mit diesem Appell zu sehen. Die Spanbrettplatten sind verschwunden, die neuen Schaufenster sind eingesetzt. Ein Exemplar fürs Stadtmuseum ist hoffentlich geblieben.

Von Schoengarth stammt das Bühnenbild des Solostücks „Ben allein zu House“, das der in Bremen geborene und in Stuttgart lebende Schauspieler Ben Hille geschrieben hat und nun vor einem begeisterten Publikum im Kowalski aufführt.

Nichts war mehr, wie es war

Darin erzählt der 43-Jährige so emotional packend die Geschichte von Housemusik und Techno, von einpeitschenden Beats, die eine Generation neu getaktet haben, dass man rasch reinrutscht in seine Vergangenheit und man das eigene Erwachen und Erwachsenwerden auf Tanzflächen so intensiv spürt, als wären diese aufwühlenden und erregenden Nächte erst gestern gewesen.

Ben Hille war zwölf, als er 1988 in den Sog von Disco, Chicago House, Kraftwerk und der Loveparade geriet, als er die Höhenflüge und die Abgründe der elektronischen Musik from USA für sich entdeckte.

Nichts war mehr, wie es war.

Das beste Alter für sexuelles Ausprobieren

Mit 16 Jahren ging er mit Schulfreundin Lisa zum ersten Mal in einen House-Club – im besten Alter für überraschende Entdeckungen der eigenen Körperlichkeit und für sexuelles Ausprobieren. Lisa verliebte sich in den DJ Markus, Ben küsste – „ja, mit der Zunge!“ – den Friseur Robert und wusste, welchen Weg er einschlagen sollte.

Das Stück wirkt an diesem Abend wie eine Befreiung. Es ist der überzeugende Appell an die im Kowalski eher abwesende Politik, alles zu tun, damit Clubs in der Coronakrise nicht sterben und mehr Beachtung der Gesetzgebung finden. Clubs sind extrem wichtig, damit junge Menschen ein Körpergefühl entwickeln, damit sie wissen, wie sie ticken und damit sie spüren, was sie aus ihrem Leben machen wollen.

Stuttgarter Clubs wollen „innovative Vorreiterrolle“ übernehmen

Schauspieler Hille darf auf der Bühne zappeln und zippeln. Unten darf’s sein Publikum nicht. Am Ort des Tanzes ist die Sehnsucht nach Hingabe zur Musik zu spüren. Ein offenes Geheimnis ist, dass auf illegalen Partys getanzt wird. Colyn Heinze vom Club Kollektiv, dem Verband der Clubs, setzt sich für die vorsichtige Öffnung der Tanzorte ein. Mit eingeschränktem DJ-Betrieb, digitaler Kontrolle und Sperrfunktionen an Eingängen könne man der besorgniserregende Entwicklung entgegentreten, dass die Infektionen bei verbotenen Partys unkontrolliert explodieren. Die hiesigen Clubs wollen eine „innovative Vorreiterrolle“ übernehmen. Die Begegnung ist ein Grundbedürfnis, das sich nicht unterdrücken lässt.

Die junge Leute wollen das Leben spüren, nicht nur allein zu House.