Die Türkei hat gewählt. Mit Hochspannung verfolgen türkische Bürger und Türkeistämmige in Stuttgart die Auszählung. Stimmen vom Wahlabend und vom Morgen danach.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

„Unübersichtlich“ – das ist das Wort des Wahlabends. Auch Stunden nach Schließung der Wahllokale in der Türkei herrschte Unklarheit, wie das Präsidentschaftsrennen zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kilicdaroglu von der linksgerichteten CHP ausgehen würde. Am Montagmorgen dann zeichnete sich ab, dass in zwei Wochen eine Stichwahl zwischen dem mit knapp fünf Prozentpunkten führenden Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu notwendig wird, weil keiner der beiden die notwendige absolute Mehrheit erreichte. Anders bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl. Dort steuert die regierende AKP Erdogans und die mit ihr verbündete MHP auf eine erneute absolute Mehrheit zu.

 

„Gewinnt Erdogan, gleitet die Türkei weiter in Richtung Autokratie ab“

Gebannt verfolgten auch in Stuttgart viele Türken und türkeistämmige Politiker den Wahlabend und die Wahlnacht, darunter Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne). Sie hat auf einen Sieg des Herausforderers gehofft. Am Sonntagabend schalten sie und ihr Mann Sami immer wieder zwischen den Fernsehkanälen hin und her. „Anfangs war das sehr frustrierend, weil Erdogan deutlich vorne lag“, sagt sie um 21.30 Uhr am Telefon. Doch je länger der Abend, desto mehr gleichen sich die Zahlenkolonnen an. Einholen kann Kilicdaroglu Erdogan in der Wahlnacht allerdings nicht.

Für Aras, die als Zwölfjährige mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland kam, wäre es „enttäuschend und traurig“, wenn Erdogan den Sieg davontragen sollte. „Ich hoffe inständig, dass es anders kommt und Kilicdaroglu gewinnt“, sagt sie – dann eben bei der voraussichtlichen Stichwahl in zwei Wochen. Behauptet sich Erdogan, wird die Türkei ihrer Ansicht nach „weiter in Richtung Autokratie abgleiten“.

Mehr Rechte für das türkische Parlament?

Die Tatsache, dass unterschiedlichste Parteien ein breites Bündnis gegen Erdogan geschmiedet hätten, zeigt für die Grünen-Politikerin, „wie sehr die Menschen unter der jetzigen Situation leiden“. Sie erinnerte daran, dass bei den Wahlen „keine fairen und gleichen Bedingungen“ geherrscht hätten, weil Erdogan und die regierende AKP die Medien dominieren würden. Als Parlamentspräsidentin unterstützt sie ausdrücklich die Bemühungen des Herausforderers Kilicdaroglu, dem türkischen Parlament wieder mehr Rechte zu geben, sagt sie: „Ein Wechsel wäre auch für Europa wichtig.“

Für Danyal Bayaz (Grüne), den in Heidelberg geborenen türkeistämmigen Finanzminister von Baden-Württemberg, ist die Lage am Wahlabend nicht weniger unübersichtlich: „Den Zwischenständen in den Staatsmedien ist nicht zu trauen. Da muss man sehr vorsichtig sein“, sagt er vier Stunden nach Schließung der Wahllokale. „Deshalb ist heute Abend noch keine seriöse Bewertung möglich.“ Eine Stichwahl sei nicht unwahrscheinlich. „Und das wiederum bedeutet, dass Erdogans Macht bröckelt.“

Der Ludwigsburger Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoglu (SPD), der seit seinem zwölften Lebensjahr in Deutschland lebt, ist am Sonntagabend noch guter Dinge. „Ich glaube daran, dass Kemal Kilicdaroglu das Rennen machen wird“, sagt er auf Anfrage. In früheren Wahlen habe die AKP anfangs viel weiter vorne gelegen. An Orten, wo die Opposition führe, habe Erdogan vielfach Einspruch eingelegt, so dass diese Ergebnisse nur mit Verzögerung in die Wahlstatistik einfließen würden. Für Karaahmetoglu, der auch Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe ist, ein durchsichtiges Manöver: „Edogan zieht alle Register. Er versucht, Zeit zu gewinnen und setzt die Opposition unter Druck.“

„Die Dauerpropaganda Erdogans verfängt immer noch bei vielen“

Nach den am Montagmorgen vorliegenden Zahlen sieht er immerhin einen Teilerfolg der Opposition. Die Türkei stehe jedoch vor schwierigen Zeiten. Erdogan werde mit seinem Bündnis das Parlament wohl weiterhin dominieren können und liege auch im Präsidentschaftsrennen vorn. Er habe jedoch an Zustimmung verloren und werde sich einer Stichwahl stellen müssen. „Dass Kilicdaroglu es geschafft hat, ihn in eine solche zu zwingen, ist Ausdruck der unbestreitbaren Wechselstimmung im Land“, sagte Karaahmetoglu. „Man spürt in diesen Stunden aber auch, wie sehr Erdogan über zwei Jahrzehnte seine Macht zementiert hat. Die Dauerpropaganda Erdogans verfängt immer noch bei vielen.“ Der SPD-Politiker betonte, er hoffe auf einen fairen Wahlkampf in den zwei Wochen bis zur Stichwahl. Es gehe um das Wohl der Menschen in der Türkei. „Dieses ist akut bedroht, wenn das Land weitere fünf Jahre unter dem aktuellen Präsidialsystem leiden müsste.“

Ein „verrückter Wahlabend“, an dem sich die Zahlen schnell veränderten

Für Gökay Sofuoglu, Stuttgarter und Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, deutet bereits am Wahlabend alles darauf hin, „dass es eine Stichwahl geben wird“. Das bestätigt sich am Montagmorgen. Den Wahlabend erlebt er mit „gemischten Gefühlen“, wie er sagt. „Ich wünsche mir eine Veränderung, aber ich war nicht so euphorisch wie manch andere.“ Wenn es anders komme, müsse man das akzeptieren. Erdogan habe in den Tagen vor der Abstimmung geschickt mit Emotionen Politik gemacht und die nationalistische und religiöse Karte gespielt.

Kerim Arpad, Vorsitzender des Deutsch-Türkischen Forums in Stuttgart, erlebt an seinem Handy einen „verrückten Wahlabend“. Innerhalb von drei Stunden hätten sich die Zahlen um mehr als zehn Prozent verschoben, sagt er. Für ihn bestätigt sich am Sonntagabend, wie gespalten die Türkei aktuell sei. Unabhängig vom Wahlausgang bestehe die Schwierigkeit darin, die Menschen wieder zusammenzuführen.

Anhänger der Opposition treffen sich in Esslingen zum Wahlabend

In Esslingen trafen sich bereits am Sonntagnachmittag knapp 100 Anhänger der oppositionellen CHP im Restaurant Arkadasch, zu Deutsch „Freund“, um gemeinsam zu verfolgen, wie der „Diktator Erdogan“ abgewählt wird, wie eine der Organisatorinnen von CHP Württemberg e. V., Nazan Kilic, sagt. „Die Stimmung ist gut, anfangs führte Erdogan, jetzt ist es ein Kopf-an-Kopf-Rennen.“ Das ist die Lage gegen 21.45 Uhr: „Wir haben große Hoffnung und sind sicher, dass wir den nächsten Präsidenten stellen“, sagt die gebürtige Esslingerin.

Viele der CHP-Mitglieder, die am Wahlabend im Restaurant Arkadasch beisammen sitzen, waren in den vergangenen Tagen im Wahllokal in Zuffenhausen als freiwillige Wahlbeobachter im Einsatz. Bis zu 100 Personen hatte die Partei von Staatsgründer Kemal Atatürk dafür täglich an den 20 Wahlkabinen in Schichten mobilisiert. Unregelmäßigkeiten hat es nach der Beobachtung von Nazan Kilic nicht gegeben. Nur in einem Fall hätte jemand abgestimmt, der nicht wahlberechtigt gewesen sei. Das sei aber korrigiert worden.

Kundgebung ohne Kundgebungsteilnehmer

In Württemberg leben rund 150 000 wahlberechtigte türkische Staatsbürger. Sie waren zwischen dem 27. April und dem 9. Mai aufgerufen, ihre Stimme in einem Gebäude des türkischen Konsulats in Zuffenhausen abzugeben. Die Beteiligung war rege. „Höher als bei der letzten Wahl 2018“, vermutet Nazan Kilic. Damals stimmten in Stuttgart rund 55,2 Prozent der registrierten türkischen Wahlberechtigten ab. Im badischen Landesteil, wo rund 90 000 Türken wahlberechtigt sind, beteiligten sich damals 44,6 Prozent.

Das einzig Übersichtliche an diesem Wahlabend scheint die Lage auf dem Stuttgarter Schlossplatz zu sein. Aus dem Erdogan-kritischen kurdischen Spektrum war eine Kundgebung angemeldet worden. Abgesehen von zwei Wagen der Bereitschaftspolizei herrschte dort gähnende Leere.