Wie sehr leidet das Image der Stadt unter den Coronaprotesten? Wir haben mit engagierten Stuttgarter:innen, unter anderem aus der Kultur- und Club-Szene, über ihre Erfahrungen und den Ärger mit den maskenlosen Querdenkern gesprochen.

Stuttgart - Als am vergangenen Samstag etwa 15.000 Coronaleugner, selbsternannte Querdenker und Rechte durch die Stuttgarter Innenstadt zogen, konnten es viele nicht fassen: Warum wird so etwas überhaupt erlaubt? Wie kann es dazu kommen, dass sich die Landeshauptstadt an der Nase herumführen lässt, Provokationen billigend in Kauf nimmt und Auflagen, wie Abstandsregeln und das Tragen von Nase-/Mundbedeckungen einfach ignoriert werden?

 

Wir haben mit engagierten Stuttgarter:innen, unter anderem aus der Kultur- und Gastroszene und dem Nachtleben, über die Querdenken-Demo am Samstag gesprochen und nachgefragt, wie sehr das Image der Stadt unter selbsternannten Querdenkern und "Krawalltouristen" leidet.

Sara Dahme, Inhaberin des KulturKiosk in S-Mitte:

"Es lag eine unverhältnismäßige Aggressivität in der Luft. Am KulturKiosk konnte ich beobachten, wie unzählige 'Krawalltouristen' nach Stuttgart mit dem Auto pilgerten und die Polizei etliche dieser 'Besucher' ins Parkhaus zurückbegleitete. Auch viele der Demobesucher*innen kamen ohne Maske in meinen Kiosk und reagierten enorm gereizt, als ich darauf hinwies, dass sie eine Maske tragen müssen. Ich empfand es absolut fahrlässig und unverantwortlich diese Demo zuzulassen – es war doch allen klar, das keine*r der Teilnehmer*innen eine Maske tragen oder sich an Abstandsgebote halten würden.

So wie ich das empfinde, kamen die meisten nur nach Stuttgart um Dampf abzulassen und dem ganzen aufgestauten Corona-Frust freien Lauf zu lassen. Mit Kritik an der Sache hatte das eher wenig zu tun. Uns Stuttgartern so etwas zuzumuten, will ich nicht hinnehmen müssen. Da erwarte ich eine klare Haltung von Seiten der Stadt."

Colyn Heinze, Club Kollektiv Stuttgart:

"Der vergangene Samstag sendet ein katastrophales Signal! Ich würde mir eine ähnliche Message wie im letzten Sommer nach der Krawallnacht wünschen: Das ist auch nicht Stuttgart! Sondern eine aus ganz Süddeutschland zusammengekarrte Menge. Am fatalsten empfinde ich die Außenwirkung. Die Breite der jungen Menschen differenziert kaum zwischen einer Demonstration und den Einschränkungen, die man selbst ertragen muss. So wird die Einhaltung der Maßnahmen ad absurdum geführt, und das Verständnis und die Bereitschaft diese einzuhalten sinkt weiter.

Es muss der letzte Warnschuss an Stadt und Polizei sein, die sicher auch keinen einfachen Job am Samstag hatten. Aber das darf sich nicht wiederholen! Abschließend ist es vor allem für die Clubs und die Nachtkultur in Stuttgart essentiell, möglichst schnell aus dem Lockdown rauszukommen. Die Demo am Samstag trägt leider ihren Teil dazu bei, dass sich die Situation weiter verschärfen könnte und wir sogar um die Möglichkeit von Alternativangeboten im Sommer bangen müssen. Wir sind am Schutz unserer Mitmenschen interessiert. Danke für dieses wirkliche Superspreader-Event!"

Alex Scheffel, DJ 5ter Ton (Massive Töne, Kolchose):

"Mir ist das, was da am Ostersamstag in Stuttgart vorgefallen ist, echt bitter aufgestoßen und macht mich einfach nur wütend. Als Akteur und mehrmaliger Gast beim HipHop-Open etwa hat sich die Stadt und auch die Polizei geplant gegen diese Veranstaltung gestellt und sich auch so verhalten. Sprich, man hatte Ein- und Ausfahrten in den Kessel oder zum Spielort schon einen Tag vorher und am Veranstaltungstag sowieso rigoros kontrolliert. Und da ging es nur darum Leute und Jugendliche zu erfassen, die da ein, zwei Grüße aus Jamaika dabei hatten.

Ein anderer, jetzt häufig genannter, Vergleich ist der 'Schwarze Donnerstag" vor mittlerweile zehn Jahren im Schlossgarten. Mit welcher polizeilichen Härte unter anderem die Schülerdemo und viele ältere Mitmenschen angegangen wurden, wissen wir mittlerweile alle.

Deshalb ist es für mich auch unbegreiflich, dass die Stadt diesen Demozug überhaupt genehmigt hat. Mit welcher Kaltschnäuzigkeit die Veranstalter und ihre Mitläufer dies ausgenutzt haben, sehen wir nun auch nach mehrtägiger Aufarbeitungszeit. Jetzt kommt man natürlich mit den üblichen Aussagen, nach dem Motto: 'Hätten wir das nur vorher gewusst!' etc.

Aber im Grunde hat es schon jeder geahnt, dass das für diese 'Rattenfänger' ein Riesencoup war – leider aber auch ein Schlag ins Gesicht unserer geliebten Mutterstadt. Nichtsdestotrotz lassen wir uns als Stuttgarter nicht unterkriegen!"

Serkan Eren, Gründer der Hilfsorganisation Stelp:

"Ich finde es ziemlich seltsam, wie Menschen auf eine Demo gehen, weil sie ihre Meinung nicht sagen dürfen, auf der sie dann ihre Meinung sagen dürfen. Völlig wahnsinnig auch, wie diese Demo erlaubt werden konnte, während man eine Mahnwache für die Ermordeten von Hanau verboten hat.

Ebenso total absurd: Man verbietet Kindern mit anderen Kindern zu spielen, während man zuschaut, wie zehntausend Menschen alle Hygienbestimmungen völlig ignorieren. Mich nerven diese selbsternannten Jeanne d‘Arcs einfach nur noch. Und eines steht fest: Meine geliebte Wahlheimat hat ein weiteres Mal ein katastrophales Signal gesendet."

Tihana Canjuga, Inhaberin von Cupcakes & Bagels am Hölderlinplatz:

"Wir haben am Samstag gearbeitet, da wir es uns nicht leisten können, auf der Straße zu spazieren und fragwürdige Demo-Schilder in die Luft zu halten. Unsere Mitarbeiterin, die in der Nähe unterwegs war, wurde aber Zeugin, wie Demonstranten eine Frau angeschrien hatten, weil sie eine Maske trug.

Von Freunden von außerhalb wurden mir Nachrichten geschickt wie 'Was ist mit Stuttgart los?' oder 'Hätte ich nie gedacht...' – einfach schrecklich. Unser Café, wo mit Abstand maximal zehn Menschen sitzen können, ist geschlossen und 15.000 Menschen dürfen ohne Masken und Abstand demonstrieren und nichts passiert. Ich kann mir nur vorstellen, wie Kollegen, die schon seit sechs Monaten geschlossen haben, darüber denken. Ich fasse es nicht, dass die Politik, nachdem es mit den Impfungen und Lockdowns so gescheitert ist, so etwas durchlässt."

Elmar Jäger, Grafiker, Veranstalter und Soundsystem-Gründer (Sentinel Sound):

"Ausgehend von der Tatsache, dass der Veranstalter zugesichert hatte, die Auflagen einzuhalten – und dem dann aber keineswegs so war – hätte diese Demo eigentlich von der Polizei 'sanft' aufgelöst werden sollen. Ich stehe der Polizei allerdings die finale Beurteilung der Situation und die darauf basierende Entscheidung zu.

Letztendlich hat man es hier – bis auf einige Ausnahmen – mit der Frustration der Menschen im momentanen Zustand zu tun. Dann die Gewaltspirale zu bedienen, ist meistens die schlechtere Option. Hoffen wir, dass die nächste Demo aufgrund der Verstöße nicht stattfinden kann. Einen Imageverlust für die Stadt durch die Polizei sehe ich nicht."

Stoff Büttner, Stuttgarter Unternehmer:

"Jede Stadt hat das Recht darauf, sich lächerlich zu machen. Und in jeder Stadt gibt es Volltrottel und Querdenker, deshalb glaube ich, dass so eine Demo wie am Samstag den Stuttgartern nicht schadet. Ein bisschen Blamage hat noch keiner Stadt geschadet und Stuttgart ist so hoch im Kurs. Unterm Strich kann man sagen: Es schadet Stuttgart nicht, nur weil hier die Trottel ein bisschen mehr Medienpräsenz bekommen haben."

Tabea Booz, Sängerin:

"Ich bin total entsetzt, weil ich diese Verhältnismäßigkeit nicht begreife. Wie kann es sein, dass ganze Industriezweige und meine Branche, die Club-, Event- und Musikbranche, sich seit einem Jahr so zusammenreißt – und versucht da unbeschadet herauszukommen und dann 15.000 Menschen ohne Masken und Abstand demonstrieren dürfen, ohne dafür belangt zu werden. Und das nicht zum ersten Mal. Es war ja auch zu erwarten, dass die Demo diese Ausmaße annehmen und es zu Verletzungen der geltenden Regeln kommen würde. Das ist alles so krass.

Das Image von Stuttgart hat auf jeden Fall sehr darunter gelitten. Was ich aber besonders heftig finde, ist, dass das alles auch auf dem Rücken von uns allen und vor allem des Pflegepersonals ausgetragen wird, weil so ein Superspreader-Event natürlich neue Infektionen, mehr schwere Fälle, Intensivbetten usw. nach sich zieht. Und das finde ich einfach nur noch respektlos, dass man so etwas toleriert und bei so etwas mitmacht.

Demonstrationen in einer Demokratie sind wichtig, aber man kann diese Pandemie nach einem Jahr doch nicht mehr leugnen, man darf nicht so respektlos mit seinen Mitmenschen umgehen. Sehr schade, dass Konzerte beispielsweise seit einem Jahr nicht mehr stattfinden dürfen, nicht mal mit Abstandsregeln und vernünftigem Hygienekonzept. Alles nur, weil wir keinen einheitlichen und funktionierenden Weg aus dieser Pandemie finden. Da fragt man sich ja schon: Wie soll das weitergehen?"