Sitzenbleiben ist an der Elise-von-König-Gemeinschaftsschule in Münster ein Fremdwort. Leistung bringen müssen die Schüler trotzdem. Nur anders. Ein Schulbesuch.

Stuttgart - Volltreffer. Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ kommt bei den Schülern der 8 c an der Elise-von-König-Schule in Münster bestens an. Gelesen haben sie ihn offenbar alle, wie sonst könnten sie auf die Schnelle herausfinden, auf welcher Seite und in welchem Zusammenhang Begriffe wie „Tankschlauch“ oder Zitate wie „Der Karton meiner Mutter hieß Karl-Heinz“ zu finden sind. Auf den ersten Blick ist bei dem Unterricht nicht wahrnehmbar, dass in der 8 c Schüler auf drei verschiedenen Leistungsstufen lernen. Statt Haupt-, Realschul- oder Gymnasialniveau spricht man in der Gemeinschaftsschule von Grund-, mittlerem oder erweitertem Niveau. Anders als in den tradierten Schularten kann der Level je nach Fach unterschiedlich gewählt werden. Die Schüler arbeiten ruhig und konzentriert in Kleingruppen, tauschen sich aus. Routiniert wirkt das. Und freundlich: Man hilft einander. Eine Schülerin läuft zur Lehrerin: „Wo haben Sie die Lösungen?“ An dieser Stelle scheint das Besondere der Schulart Gemeinschaftsschule (GMS) durch. Denn das Mädchen will sich nicht etwa die Arbeit sparen, sondern die Ergebnisse kontrollieren. Und zwar jetzt, weil sie jetzt fertig ist.

 

Für die Acht- und Neuntklässler ist bald Schluss mit dieser Schule

Doch für die aktuellen Acht- und Neuntklässler ist nach Klassenstufe zehn Schluss mit der Gemeinschaftsschule. Eine gymnasiale Oberstufe wird es in dieser Schulart in Stuttgart frühestens im Schuljahr 2020/21 geben, eher aber im Schuljahr 2021/22. Die Neuntklässlerin Lena bedauert, dass die Oberstufe nicht früher kommt – „dann könnten wir unser System, wie wir lernen, beibehalten“. Lena weiß dessen Vorteile zu schätzen, denn sie wechselte erst in Klasse sieben vom G8-Gymnasium an die GMS. Hier habe sie „mehr Spaß am Lernen – hier kann man sich selber einteilen, wie schnell man arbeitet“. Auch ihr Jahrgangskollege Philipp hat vor zwei Jahren „vom G8 hierunter gewechselt“, wie er es nennt. Und „gleich gemerkt, der Druck ist nicht so extrem, mir fiel das Lernen leichter“. Selbstbestimmtes Arbeiten, selbstbestimmtes Tempo, kein Notendruck, das nennen auch die Mitschüler als Pluspunkte. Nur dass sie als Ganztagsschüler mittags die Schule nicht verlassen dürfen, gefällt nicht allen.

24 Neuntklässler haben sich für den Hauptschulabschluss angemeldet, doch etliche streben den mittleren Bildungsabschluss nach Klasse zehn an. Und dann? Die Neuntklässler Pascal und Philipp wollen danach „erst mal eine Ausbildung machen“ – „wenn’s nicht klappt, mach ich mit der Schule weiter“, sagt Philipp. Lena peilt das zweijährige Berufskolleg auf der Kaufmännischen Schule an. Ihr Ziel: Kauffrau für Büromanagement bei der LBS. Die Idee habe sie aus dem Internet. Sohejla würde später gern Sport und Mathe fürs gymnasiale Lehramt studieren. Allerdings hat sie bisher nur eine Fremdsprache gelernt, könnte ihr Abi wohl über ein hauswirtschaftliches Gymnasium erwerben. Für die Achtklässlerin Mirtha steht schon jetzt fest: „Ich möchte nach Klasse zehn auf ein Gymnasium wechseln, Abi machen, studieren – was, weiß ich noch nicht.“ An der Elise-von-König-Schule lernt sie drei Fremdsprachen: Englisch, Französisch, Spanisch. Damit ist sie nicht die Einzige. Insgesamt zwölf Achtklässler und 14 Neuntklässler machen das auch.

Kinder aus ganz Stuttgart kommen nach Münster

Sechs der 41 Pädagogen sind Gymnasiallehrer mit den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch, Geschichte, Ethik, Spanisch, Sport – Mathe wird von zwei Realschullehrern abgedeckt. 32 Pädagogen sind Grund- Haupt- und Werkrealschullehrer, dreieinhalb Stellen sind Sonderpädagogen vorbehalten. Denn 46 der insgesamt 460 Elise-von-König-Schüler sind Inklusionskinder mit den Förderbereichen emotional-soziale Entwicklung, Lernen sowie Körper- und geistig Behinderte. Dass nach 2014 die Anmeldezahlen stetig gesunken sind – aktuell gibt es 37 Fünftklässler –, führt Schulleiterin Damaris Scholler darauf zurück, „dass in unserem Umfeld mehr Gemeinschaftsschulen entstanden sind“. Die Elise-von-König-Schule besuchten aufgrund der Mund-zu-Mund-Propaganda Schüler aus ganz Stuttgart. Eltern schätzten das familiäre Umfeld und das gemeinsame Lernen.

Auch Schulwechsler bekommen hier eine Chance

Im Unterschied zur Pionierphase, in der die Schule „kein Auffangbecken“ für Kinder sein wollte, die anderswo nicht zurechtgekommen sind, nimmt die Elise-von-König-Schule inzwischen auch Querwechsler auf: „Wir gucken genau hin und machen Einzelfalllösungen“, sagt Scholler. „Wir bitten um eine Empfehlung der abgebenden Schule“, ergänzt Konrektorin Katja Ibrahim. Nach zwei Probewochen entscheiden Klassenlehrer und Schulleitung, ob das Kind „integrierbar“ ist. „Wenn wir Platz haben und das passt, nehmen wir das Kind auf“, so Scholler. Entscheidend sei: „Kann das Kind mit diesem hohen Maß an selbstständigem Arbeiten umgehen?“

Natürlich wünscht sich Scholler – wie übrigens auch der Gesamtelternbeirat der Stuttgarter Schulen und Schulbürgermeisterin Isabel Fezer – eine rasche Einführung der Sekundarstufe II in Stuttgart. Es sei „wichtig, dass Eltern sehen, dass eine Gemeinschaftsschule zum Abi führen kann – mit der Arbeitsweise, die ihr eigen ist“.