An der Frage, was das Jahr 2020 uns sagen will und kann, sind schon viele gescheitert. Grund genug, mit zwei Autoritäten nach Antworten zu suchen: dem früheren Bundespräsidenten Horst Köhler und Jochen Sandig, dem Intendanten der Ludwigsburger Schlossfestspiele.

Stuttgart - Ein Treffen in Berlin-Mitte, im Büro von Horst Köhler, dem Bundespräsidenten a.D., wie es offiziell heißt. Corona-Regeln werden hier penibel eingehalten, vor allem, weil ein weiterer wichtiger Gesprächspartner dabei ist: Jochen Sandig, Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele, deren Schirmherr Köhler ist – der wiederum selbst in der Stadt aufgewachsen ist. Kultur, Herkunft, Politik, die Talkthemen sind gesetzt.

 

Herr Köhler, Herr Sandig, ein in vieler Hinsicht kompliziertes Jahr geht zu Ende. Wie ist Ihre ganz persönliche Bilanz?

Horst Köhler: Es gibt wie so oft mehrere Dimensionen. Auf der einen Seite steht all das Organisatorische, die abgesagten Termine, die Videokonferenzen. Mühsam, aber damit kann man leben. Neben der Sorge um die Familie haben meine Frau und ich aber auch einen überraschend positiven Aspekt bemerkt: Seit dem Sommer hatten wir viel mehr gemeinsame Zeit. Und unsere Unterhaltungen kamen immer wieder auf zwei Fragen zurück: Was ist wirklich wichtig? Sind wir aufmerksam genug für andere?

Jochen Sandig: 2020 ist ein sehr herausforderndes Jahr, wir befinden uns mitten in einer Zeitenwende. Mein Team und ich hatten vorab allen Künstlerinnen und Künstlern, die wir zu den Schlossfestspielen eingeladen haben, drei Fragen gestellt: Wo stehst du? Was bewegt dich? Wohin gehen wir? Mich interessieren die praktischen Wege der sogenannten Großen Transformation – als Schicksalsfrage der Menschheit. Von welcher Aktualität das in diesem Jahr sein würde, wussten wir während unserer Planung nicht. Wir haben den Zusammenhalt gesucht, und auf einmal machten wir alle zusammen halt.

Die Festspiele 2020 sollten Ihr Debüt als Intendant werden, im April mussten Sie den größten Teil absagen. Welche Gedanken dazu treiben Sie um?

JS: Wir nehmen die Maßnahmen gegen die Pandemie sehr ernst. Umso mehr realisieren wir, dass gerade jetzt den Künsten gesellschaftliche Aufgaben zuwachsen, weil sie Menschen Orientierung schenken. Zum Glück hat uns der Ludwigsburger Oberbürgermeister Matthias Knecht mit aller Kraft unterstützt. So konnten wir im Juni unter dem hoffnungsfrohen Titel „Al fine da capo“ noch einen elftägigen Festivalbetrieb auf die Beine stellen. Unsere Gäste konnten die Veranstaltungen sowohl physisch als auch online verfolgen. Sehr beliebt waren die Freiluftkonzerte am barocken Marktplatz mit seiner tollen Akustik. Eine Entdeckung, denn hier konnten wir die Stadtgesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt erreichen.

Viele sehen Kultur als Branche, die besonders hart von Corona betroffen ist.

JS: Die Situation bedroht vor allem die Existenz der Freischaffenden. Deshalb suche ich mit ihnen gerade nach neuen innovativen Formaten. Wir wollen auch in Zukunft als ausgefallenes Festival überraschen. Künste können Reflexionen in Gang setzen. Wenn diese Potenziale genutzt werden, gibt es Grund zur Hoffnung.

HK: Ungeduldig macht mich aber, wenn der Politik Willkür unterstellt wird. Der Umgang mit dieser Pandemie ist für alle ein großer Lernprozess mit vielen Unbekannten, gerade für die politisch Verantwortlichen. Und sie haben ihre Sache im Großen und Ganzen bisher gut gemacht.

Die Schlossfestspiele haben sich den „Sustainable Development Goals“ verpflichtet, die die UN entwickelt haben, unter Beteiligung von Ihnen, Herr Köhler. Welche Bedeutung hat diese Agenda?

HK: Eine globale, denn alle UN-Mitgliedstaaten haben sich ihr verpflichtet. Die Agenda 2030 und das Klimaabkommen von Paris sagen im Grunde: Wir müssen unsere Welt als eine Verantwortungs- und Solidargemeinschaft begreifen. Sie ist von Interdependenz geprägt, von Wechselwirkungen und Abhängigkeiten. Keine Grenzmauer schützt vor einem Virus – und vor den Folgen des menschen-ge-machten Klimawandels schon gar nicht. Die Schlossfestspiele mit der globalen Reformagenda der Vereinten Nationen zu verbinden, ist ein großartiges Beispiel, wie Kultur mitwirken kann, neues Bewusstsein zu schaffen und damit Veränderungsbereitschaft. Ich freue mich sehr über diese Weitsicht und Kreativität von Herrn Sandig.

JS: Die Agenda 2030 beflügelt uns als Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit. Im heutigen Weltgefüge hängt alles miteinander zusammen – ökologisch, ökonomisch, sozial –, und die Konsequenzen aus der Globalisierung treffen und betreffen uns alle. Das soll sich auch in unserem Festival widerspiegeln. Ich bin überzeugt: Wenn wir die großen Probleme unserer Zeit gemeinsam lösen wollen, müssen wir lokal anpacken. Weil wir gerade in den Städten besonders handlungsaktiv sind.

HK: „Stadtluft macht frei“ hieß es im Mittelalter. Ich finde, das gilt heute wieder neu, denn Städte und Gemeinden sind geradezu Labore, in denen nach Lösungen für die unvermeidliche, neue „Große Transformation“ gesucht werden kann: Wie bewegen wir uns in Zukunft fort, wie ernähren wir uns, wie bauen wir? Wie gehen wir mit der Digitalisierung um? Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Wenn Transformation vor Ort konkret wird, dann macht sie Lust auf Mitmachen und belebt so unsere Demokratie.

Was nur funktioniert, wenn sich alle über gewisse Grundwerte einig sind. Debatten darüber erleben wir aber immer öfter.

HK: Die Verführung, sich abzuschotten und auf einfache, populistische Lösungen zurückzuziehen, ist groß. Der Historiker Christopher Clark hat als Ursache des Ersten Weltkriegs „Schlafwandler“ am Werk gesehen: Akteure, die von Misstrauen, Fehleinschätzungen und Überheblichkeit geleitet in die Katastrophe rutschten. Ein Festival wie das in Ludwigsburg kann mithelfen, Schlafwandler von heute aufzuwecken.

JS: Viele der Künstler, die wir eingeladen haben, entwickeln Projekte genau zu diesen Themen. Anfang 2020 habe ich in New York die -Vize-UN-Generalsekretärin Amina J. Mohammed getroffen, auf Vermittlung von Herrn Köhler. Sie bestärkte mich darin, für unser Festival die globale Agenda als Kompass zu verwenden. Ihrer Meinung nach können die Künste Menschen besonders stark in Bewegung bringen.

Auch die Bilder aus dem Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos haben uns 2020 bewegt. Herr Köhler, wie ging es Ihnen als Flüchtlingskind, als Sie das sahen?

HK: Ich wurde traurig und zornig zugleich. Nach der Flucht meiner Eltern aus der sowjetischen Besatzungszone lebten wir über vier Jahre in Flüchtlingsunterkünften, erst in West-Berlin, dann in Weinsberg, Backnang und schließlich in Ludwigsburg. Das waren häufig ehemalige Militärkasernen mit Stockbetten und sechs bis acht Familien in einem Raum – gemessen an den Bedingungen in Moria geradezu komfortabel. Trotzdem weiß ich um das Gefühl der Angst, der Fremdheit, der Ohnmacht. Niemand sollte sich wundern, wenn sich Menschen in solchen Lagern radikalisieren.

1962, also mit 19, haben Sie dann in Ludwigsburg den damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle live erlebt.

HK: Unvergesslich. Ich rannte mit einigen Schulkameraden in der Allee parallel zur Stuttgarter Straße, wo Konrad Adenauer und Charles de Gaulle mit dem Auto einfuhren, zum Schloss. Wir drängelten uns bis nahe an den Balkon heran, von dem aus de Gaulle seine „Rede an die deutsche Jugend“ hielt. Wir fühlten uns angesprochen. Er traute uns etwas zu. Das verfing bei mir. Die deutsch-französische Freundschaft betrachte ich bis heute als einen Auftrag an alle Deutschen.

Was bedeutet Heimat heute für Sie?

HK: Heimat bedeutet vor allem die deutsche Sprache. Sie ist der Ort, wo ich meine Familie und Freunde weiß und wo ich aktiv am politischen Prozess teilnehmen kann. Die Geschichte meiner deutschen Heimat bedeutet für mich aber auch, für eine bessere Welt für alle Menschen einzutreten. Vielleicht ist das typisch deutsch …

JS: Ich fühle mich als Weltbürger. Heimat bedeutet für mich daher nicht nur Baden-Württemberg oder Berlin, sondern vor allem unsere gemeinsame Heimat: der Planet Erde. Ich habe alle Kontinente bereist, auch mit Sasha Waltz, meiner Frau, und unserer gemeinsamen Tanzkompanie. Dabei habe ich viel darüber erfahren, wie Menschen leben und wie wichtig eine, im wörtlichen Sinn des Wortes, Behausung ist.

HK: Was uns wieder zur Interdependenz führt. Jeder Lebensort auf dem Planeten Erde kann nur dann eine gute Heimat bleiben, wenn die gemeinsame Biosphäre intakt bleibt. Das ist nicht mehr gesichert. Und das hat etwas mit dem Lebensstil und der Wirtschaftsweise in der industrialisierten Welt zu tun. Der in den USA lehrende deutsche Philosoph Vittorio Hösle hat gesagt: „Das Prinzip der modernen Ethik ist die Universalisierbarkeit. Wenn also unser Lebensstil nicht universalisierbar, nicht verallgemeinerbar und von jedem lebbar ist, dann ist er nach den eigenen Maßstäben der Moderne nichts anderes als unmoralisch!“

Was sind Ihre Wünsche für 2021?

JS: Ich wünsche mir jede denkbare Form von Zusammenkunft. Mit meiner Familie, meinen Eltern, Freundinnen, Freunden, unserem Publikum und Menschen, die ich neu kennenlerne. Natürlich auch bei den Schlossfestspielen, und am liebsten physisch und nicht nur auf digitalen Bühnen. Wenn man zusammen aufbricht, braucht man auch ein gemeinsames Ziel.

HK: Und mit der „Agenda 2030 for -Sustainable Development“ haben wir die Richtung für diesen Weg: „Leave no one behind!“ Ich habe die große Hoffnung, dass die USA unter der Führung von Präsident Biden wieder ein Anker für die Idee und die Arbeit der Vereinten Nationen werden. Ansonsten wünsche ich mir, wie alle Menschen, dass wir gesund bleiben.