Kunstauktion trifft Modehaus: Zu Besuch in London bei Bastienne Leuthe, die bei Sotheby’s als Senior Director für zeitgenössische Kunst arbeitet und ihrem Mann Jürgen, dem Geschäftsführer der Nürtinger Modemarke Luisa Cerano.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Die größte Gefahr, die dem Besucher im Londoner Stadtteil Mayfair droht, ist: von einer Limousine mit Chauffeur überfahren zu werden. Zwischen der Rückseite des herrschaftlichen Auktionshauses Sotheby’s und dem kleinen Kunstraum namens S2 an der St George Street liegen zwar nur wenige Meter, aber beim Überqueren der Straße bleibt genug Zeit, um fast unter die Räder zu geraten. „Death by Chocolate“ heißt ein Song der Heidelberger Band De-Phazz. „Death by Rolls Royce“ müsste es in dieser Ecke von London heißen, in der die Straßen von edlen Flagship-Stores und Galerien gesäumt sind.

 

Der Kunstraum S2 wird von der Abteilung für zeitgenössische Kunst von Sotheby’s für Verkäufer bespielt, die an einer öffentlichen Auktion nicht interessiert sind. Auf der kleinen Fläche, die düster wie eine temporäre Off-Location gehalten ist, geht es an diesem Tag um Slogans aus dem Katholizismus und um die Frage, ob Andy Warhol an seinem Lebensende eventuell religiös geworden sein könnte. Ein Spruch wie „Heaven and hell are just one breath away!“, den eine Warhol-Arbeit zeigt, könnte allerdings auch satirisch gemeint sein.

Eine Familie – zwei Welten

Diese Kunst ist erschreckend aktuell. Die Corona-Pandemie, von der zum Zeitpunkt dieses Besuchs in London noch nichts zu spüren ist, hat uns im Sinne Warhols gezeigt, dass die Hölle – unter bestimmten Bedingungen – tatsächlich nur einen Atemzug entfernt sein kann. Rückblickend fühlt sich der Tag auf den Spuren des Stuttgarter Ehepaars Bastienne und Jürgen Leuthe in London an, als hätte er in einem anderen Zeitalter stattgefunden.

Bastienne Leuthe ist bei Sotheby’s als Senior Director für zeitgenössische Kunst auf dem deutschen Markt zuständig. Jürgen Leuthe verantwortet als Geschäftsführer den internationalen Ruhm der Nürtinger Modemarke Luisa Cerano. Mit ihren Töchtern lebt das Paar in Stuttgart. An diesem Tag jedoch treffen sich beide Welten der Familie – einerseits die Kunst, andererseits die Mode – in London.

Das Sotheby’s-Auktionshaus und das englische Headquarter von Luisa Cerano befinden sich nur einen Steinwurf voneinander entfernt – ein Steinwurf quer über den Oxford Circus hinweg. Das an der New Bond Street gelegene Sotheby’s ist an jenem Prä-Corona-Freitagnachmittag voll: Käufer, Sammler und Touristen, die endlich mal ein Selfie vor einem echten Hockney schießen wollen. Wenige Tage später wird Hockneys „The Splash“ bei der „Contemporary Art“-Abendauktion für 23 Millionen Pfund, umgerechnet mehr als 25 Millionen Euro, den Besitzer wechseln.

Was ist eigentlich wichtiger in dieser Familie?

Jürgen Leuthe, der Modemann, ist in den Sotheby’s-Hallen hin- und hergerissen zwischen der Kunst an den Wänden und dem Handy an seinem Ohr. Der Vertrieb ist gerade in der heißen Phase, der 45-Jährige muss für sein Team erreichbar sein. Ein paar Schritte weiter stellt eine Sotheby’s-Mitarbeiterin gerade das Bild „Shift“ von Bridget Riley auf dem Boden ab – auf dem Teppich gebliebene Kunst bekommt so eine ganz neue Bedeutung. Wenige Tage später wird das Werk für etwas mehr als drei Millionen Euro versteigert.

Jürgen Leuthe beendet sein Telefonat, während die 41-jährige Bastienne Leuthe mit dem Fotografen angeregt über einen Künstler plaudert, den der gerade mit der Kamera begleitet hat.

Was ist eigentlich wichtiger in dieser Familie: Mode oder Kunst?

Bastienne Leuthe: Kunst!

Jürgen Leuthe: Mode! (beide lachen)

JL: Da haben wir unterschiedliche Perspektiven. Kunst bedeutet für mich Inspiration und ein Stück weit Ablenkung von meinem Job, der nun mal die Mode ist.

BL: Für mich ist Mode auch wichtig, aber ich beschäftige mich nicht stundenlang damit, was ich anziehe und folge nicht jedem Trend.

Gibt es Überschneidungen zwischen den Welten?

JL: Kunst ist in meinem Beruf eine wichtige Ausdrucksform, um zu kommunizieren. Bei der Fashion Week in Berlin zum Beispiel veranstalten wir keine eigene Show. Da zeigen wir oft gar keine Kleider, sondern laden lieber zu einem Get-Together in eine Galerie ein, wie wir das vor zwei Jahren mit der Galerie König gemacht haben.

Die Idee, eine Mode-Veranstaltung in der Galerie König zu verorten, stammt wahrscheinlich von Ihrer Frau, oder?

BL: Nein, die Idee hatte mein Mann.

JL: Du hast die Idee aber abgesegnet. 2019 haben wir übrigens gemeinsam die Ausstellung „Die jungen Jahre der Alten Meister: Baselitz, Richter, Polke und Kiefer“ in der Staatsgalerie Stuttgart gesponsert. Für unsere Heimatstadt war so eine Ausstellung herausragend.

Genial: Sie lassen eine Ausstellung von Sotheby’s und Luisa Cerano sponsern, um zusammen Zeit verbringen zu können?

JL: Das haben wir natürlich nicht aus privaten Gründen gemacht. Ich genieße es aber total, wenn wir zwei gemeinsam Ausstellungen besuchen. Kunst hat für uns etwas Verbindendes.

Ein gemeinsamer Tag in London wie heute stellt aber eher die Ausnahme dar, oder?

BL: Für uns ist es am wichtigsten, dass einer von uns bei den Kindern ist. Deshalb sind solche gemeinsamen Tage in London in der Tat viel zu selten.

Bastienne Leuthe führt durch ihr Reich. Das Sotheby’s-Haus ist sehr verwinkelt, nach der dritten Abzweigung sind Fotograf und Autor völlig verloren. Sind wir noch in London oder schon auf der Reise zum Mittelpunkt der Erde?

„Girl with Balloon“ – ein genialer Coup

Das Auktionshaus wurde 1744 gegründet. Im Oktober 2019 kaufte die Firma BidFair USA Sotheby’s auf, die dem israelisch-französischen Medien-und Telekomunternehmer Patrick Drahi gehört. Laut offizieller Mitteilung hatte der Deal ein Gesamtvolumen von 3,7 Milliarden Dollar. Im vergangenen Jahr setzte das Haus, das mit seinem Konkurrenten Christie’s um die Vorherrschaft im weltweiten Auktionsgeschäft streitet, 4,8 Milliarden Dollar um. Im Oktober 2018 war Sotheby’s zuletzt durch die Nachrichten gegangen, als sich das Bild „Girl with Balloon“ des Künstlers Banksy nach der Versteigerung (1,2 Millionen Euro) durch einen im Rahmen eingebauten Schredder zum Teil selbst zerstörte – ein genialer Coup. Bis vor kurzem war das Werk in der Stuttgarter Staatsgalerie zu sehen.

Bevor uns von den vielen Millionen schwindelig wird, legen wir im Büro der Presseabteilung von Sotheby’s eine kurze Pause ein. Sprecherin Selei Serafin hat ein beeindruckendes Haribo-Büffet kuratiert. „That is so dangerous“, sagt eine junge Dame beim Anblick der möglicherweise größten Lakritzsammlung im Vereinigten Königreich. Hinter dem Drucker hängen die Staff Emergency Guidlines. Erster Punkt: Verhalten bei Diebstahl, Punkt fünf: Verhalten bei Wasserrohrbruch.

Gewöhnt man sich eigentlich an solch einen Arbeitsplatz?

BL: Das Sotheby’s Gebäude ist für mich zu einem Stück Heimat geworden, die Kunstwerke dagegen werden nie normal, weil die Magie des Originals stark ist.

Wie macht man hier Karriere?

BL: Ich habe als Praktikantin angefangen und wurde dann als Trainee übernommen, immer im Bereich der zeitgenössischen Kunst. Wir beginnen damit, die Auktionen zu katalogisieren: Diese Arbeit findet im Keller statt. Man recherchiert in der Sotheby’s-Bibliothek, schreibt Katalogtexte und erstellt Zustandsberichte.

Und wenn man sich unter Tage behauptet hat, darf man irgendwann wieder ans Tageslicht?

BL: Genau, dann hat man Kundenkontakt, geht auf Reisen und versucht Einlieferungen zu gewinnen …

… „Einlieferungen“ klingt nach Krankenhaus …

BL: … das trifft es nicht ganz. In der Sprache der Auktionshäuser bedeuten Einlieferungen Arbeiten, die über uns verkauft werden.

Woher stammt Ihr Faible für zeitgenössische Kunst?

BL: Meine Eltern waren oft mit mir und meiner Schwester in Ausstellungen. Das Schönste für mich war, wenn meine Eltern mich in Galerien mitnahmen und ich mitentscheiden durfte, welches Werk gekauft wird. Der Kunstaustausch mit meinem Vater hat mir immer viel Spaß gemacht. Schon am Ende der Schulzeit wusste ich, dass ich gerne in einem Auktionshaus arbeiten würde. Es gibt kaum einen abwechslungsreicheren Arbeitsplatz in der Kunstwelt.

Ist Baden-Württemberg ein wichtiger Sammlermarkt?

BL: Auf jeden Fall! Eine der weltweit wichtigsten Sammlungen für zeitgenössische Kunst ist in Stuttgart.

Während Bastienne Leuthe erzählt, nimmt Jürgen Leuthe dem Fotografen kurz die Leica ab, um selbst ein paar Bilder zu machen. Dann der Zwischenstopp zum Lunch beim Japaner Chisou, „Wir haben eine Reservierung für fünf, sind aber eine Viertelstunde zu früh und zu sechst“, sagt der Modemann – aber kein Problem. Das Mittagessen ist dann in der Tat moderne Kunst am Gaumen. Und das Gespräch setzt sich bei Tisch fort.

Frau Leuthe, ist Ihnen Stuttgart als Wahlheimat manchmal zu eng?

BL: Am Anfang fand ich Stuttgart tatsächlich etwas schwierig: Eine kleine Stadt mit so vielen Bausünden. Heute sehe ich vor allem die Vorzüge. Die Wege sind kurz, man ist schnell draußen in der Natur. In den Ferien ist man in wenigen Stunden in den Bergen oder in Frankreich und Italien. Aus Hamburg musste man immer erst ganz Deutschland durchqueren, bevor man in Frankreich bei den Großeltern ankam – und mein Vater rauchte durchgehend Pfeife im Auto.

Wie lange musste Ihr Mann kämpfen, um Sie an Württemberg heranzuführen?

JL: Sag jetzt nichts Falsches …

BL: Erst mit der Geburt unserer ersten Tochter wurde Stuttgart unser gemeinsames Zuhause. Davor hatte ich noch eine Wohnung in London.

JL: Ich bin in Stuttgart geboren und in Nürtingen aufgewachsen. Zum Studium ging es nach Italien, die Diplomarbeit habe ich in England geschrieben, mein erster Job hat mich nach Hannover geführt. Im Prinzip sind wir gemeinsam nach Stuttgart gezogen, als ich in unserem Familienunternehmen eingestiegen bin. Wir haben uns gemeinsam an die Stadt gewöhnt. Wobei ich natürlich von Anfang wusste, dass es keine bessere Stadt gibt …

Hat Hannover Ihr Schwäbisch eliminiert?

JL: Können Sie das bitte nochmal sagen, damit meine Frau das hört?

Hat Hannover Ihr Schwäbisch eliminiert?

JL: Unsere Kinder sprechen absolut dialektfrei und versuchen manchmal mit einem lustigen Schwäbisch, meine Frau hochzunehmen. Einerseits sollte man meiner Meinung nach zu seiner Herkunft stehen. Andererseits muss man sich so ausdrücken können, dass man auch jenseits der Alb verstanden wird.

Die Verständigung beim Sushi hat gut funktioniert. Weiter geht es über den Oxford Circus zum Showroom von Luisa Cerano. Kurz vor dem Wochenende scheint sich halb England an der Regent Street versammelt zu haben. Der Vormittag bei Sotheby’s wirkt nach: Sind das hier echte Menschen – oder sind wir in einer sozialen Plastik gelandet?

Das Londoner Luisa-Cerano-Hauptquartier sitzt neben einem Gebäude der University of Westminster. Großes Hallo, als plötzlich ein ehemaliger Vertriebler der Marke hereinschneit und erzählt, wie Jürgen Leuthes Vater Walter hier einst angefangen hat, mit zwei Stapeln Klamotten. Dem Vernehmen nach ist der frühere Mitarbeiter ein fröhlicher Zeitgenosse, kurz geht es um Erinnerungen an Implantate und Lieder bei Firmenfeiern.

Aber jetzt wieder sachlich: Wie ist Luisa Cerano strukturiert?

JL: Die Hauber-Gruppe wurde 1870 in Nürtingen gegründet. Mein Vater Walter Leuthe hat das Unternehmen in seiner heutigen Ausprägung entwickelt. Neben der Gründung des Labels Luisa Cerano hat er auch den Grundstein für unsere Marke Sporlastic gelegt, in dem er in den 1970ern einen französischen Bandagen-Hersteller gekauft hat. Der Fokus der Firma liegt auf dem Kerngeschäft, der Mode und den orthopädischen Hilfsmitteln. Hier sind wir nachhaltig selbstfinanziert und können uns darauf konzentrieren, wie wir unsere Marken in den Nischen entwickeln.

Wie machen Sie das konkret?

JL: Wir legen Wert auf einen sehr hohen Qualitätsstandard und produzieren vor allem in Europa. Unsere Produkte platzieren wir deshalb im Premiumsegment. Hier sprechen wir eine Kundin an, die Mode und hohe Qualität liebt und sich das auch leisten kann, da sie finanziell unabhängig ist.

Ist das Narrativ des sparsam wirtschaftenden Schwaben ein Klischee oder steckt ein Funken Wahrheit dahinter?

JL: Wir drehen jeden Cent dreimal um, bevor wir ihn ausgeben, weil es unser eigenes Geld ist und nicht das eines Investors. Wir verfolgen keine Expansion in eigenen Retail, da das hohe Investitionen erfordert. Oft mit unsicherem Ausgang.

Ist die Arbeit in einem Familienunternehmen Segen oder Fluch?

JL: Vertrauen ist einer der größten Vorteile eines Familienunternehmens. Meine Geschwister und ich haben dieselbe Intention: Wir wollen die Firma vergrößern und weitergeben. Wir haben die Hoffnung, dass bei neun Nichten und Neffen das Erbe innerhalb der Familie fortgeführt wird.

Von der Mode noch mal kurz zurück zur Kunst. Frau Leuthe, Können Sie eigentlich abschalten, wenn Sie privat in eine Galerie gehen?

BL: Wenn ich mit Freunden in eine Ausstellung gehe, fragen sie manchmal: Was wäre das jetzt wert? Deshalb gehe ich auch gerne in Ausstellungen, die nichts mit meinem Bereich zu tun haben. Da lerne ich viel Neues, ohne Zahlen im Kopf zu haben. Bei unseren privaten Käufen fragt eher mein Mann, ob das Kunstwerk in zehn Jahren mehr wert sein wird. Das ist mir egal: Wir kaufen, weil es uns gefällt.

JL: Hauptsache, die gekaufte Kunst kommt am Ende auch bei uns an …

War das Gegenteil schon mal der Fall?

BL: Wir haben letztes Jahr eine kleine Leinwand bei einer norwegischen Galerie gekauft. Sie hätte über Fedex geliefert werden sollen, kam aber leider nie bei uns an.

Corona-Virus und die Welt der Mode

Bastienne und Jürgen Leuthe kamen nach dem Tag in London wieder wohlbehalten in Stuttgart an, trotz eines Sturms, der viele europäische Flughäfen lahmlegte. Einige Wochen später sieht die Welt ganz anders aus, wir sprechen mit beiden noch einmal. Wie hat das Corona-Virus die Welt der Mode beeinflusst?

„Die aktuelle Krise verlangt uns als Unternehmer alles ab“, sagt Jürgen Leuthe. Als Modeanbieter sei seine Firma extrem von den Lockdown-Maßnahmen betroffen gewesen. Der Umsatz sei eingebrochen. Dank der Erfahrung der Marke Sporlastic im Gesundheitssektor habe man allerdings in nur 14 Tagen eine medizinisch einsetzbare FFP2 Maske entwickeln können.

Wie geht es dieses Mal weiter?

Und welchen Einfluss hatte Corona auf das Geschäft bei Sotheby’s? Wurde während der Kontaktbeschränkungen mehr Kunst gekauft, weil die Sammler mehr Zeit hatten, ihr Home Office zu verschönern? „In der Tat wurde viel Kunst in unseren Onlineauktionen gekauft. Nachdem die Aktienmärkte zurzeit schwierig sind, suchen viele nach alternativen Investitionsmöglichkeiten“, sagt Bastienne Leuthe. „Einige Live-Auktionen wurden sehr erfolgreich in Online-Auktionen umgewandelt. Bisher hat Sotheby’s 2020 in mehr als 62 Online-Auktionen 127,9 Millionen Dollar erzielt.“

Bastienne Leuthe ist Zeitenwenden gewöhnt. 2008 musste das Sotheby’s-Gebäude an der New Bond Street gestützt werden, um eine Auktion von 223 Werken von Damien Hirst möglich zu machen. 111 Millionen Pfund für Hirsts Kunstwerke lautete die denkwürdige Bilanz des zweitägigen Spektakels. Noch während die Werke verkauft wurden, passierte das metaphorische Erdbeben: In der City von London wurden Massen von Bankern entlassen. Der Bankrott der Investmentbank Lehman Brothers erschütterte nicht nur die Finanzbranche, sondern schickte Schockwellen durch die ganze Welt. Dennoch: Schon kurz danach war bei Sotheby’s alles wieder fast wie zuvor. Das ist die Frage, die nicht nur die Leuthes gerade bewegt: Wie geht es dieses Mal weiter?