In der Reihe Stuttgarter Zeitung Direkt - vhs Pressecafé hat Knuth Kron über Recep Tayyip Erdogan und die aktuellen, entscheidenden Wahlen in der Türkei gesprochen und viele interessante Einblicke gegeben.

Stuttgart - Die deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan auf Fotos mit den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Das erregte die Gemüter. „Türkische Innenpolitik ist auch deutsche Innenpolitik, die gesellschaftliche Ebene spielt mit hinein“, erklärte dazu Knut Krohn im Treffpunkt Rotebühlplatz. Dort kamen mehr als 100 Interessierte zum VHS-Pressecafé der Stuttgarter Zeitung, um den Vortrag des StZ-Redakteurs zu hören und mit ihm zu diskutieren über „Recep Tayyip Erdogan: Despot oder Demokrat? Die Türkei, die Türken und ihr Präsident. Wohin führt der Weg des Landes zwischen Europa und Asien?“ Krohn verfolgte die politische Karriere Erdogans von dessen Anfängen als erfolgreicher Bürgermeister Istanbuls bis zum Staatschef auch immer wieder vor Ort. Neben Mustafa Kemal Atatürk gebe es keinen Politiker, der der Türkei so seinen Stempel aufgedrückt habe. Seine kemalistischen Freunde, so Krohn, hätten den Vorsitzenden der Partei AKP stets kritisch gesehen. Krohn habe stutzig gemacht, als Erdogan – 2002 an die Macht gekommen – erklärte, es sei unmöglich, laizistisch und gleichzeitig Moslem zu sein.

 

Nach einer ersten Demokratisierungsphase und wirtschaftlichen Reformen begann dann auch die Erosion demokratischer, rechtsstaatlicher Standards. „Die Wahlen am 24. Juni zog Erdogan um 17 Monate vor, weil es mit der Wirtschaft bergab geht, er die anderen Parteien überrumpeln wollte. Sie ist bedeutend, sie markiert den Übergang von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialsystem.“ Damit wäre Erdogan künftig Präsident, „Hüter der Verfassung“, Regierungschef, die Gewaltenteilung aufgehoben. „Er würde den Thron nie wieder verlassen“, meinte Krohn.

Außerhalb des Landes gibt es drei Millionen Wahlberechtigte

Rund läuft es derzeit indes nicht für Erdogan. Die Lira verlor seit Jahresbeginn 20 Prozent ihres Werts, die Inflation steigt, lag im Mai bei 12,5 Prozent. In den sozialen Medien kursiert, wie Erdogan bei einer Wahlrede im kurdischen Diyarbakir sprachlos vor sich hin starrte, weil der Teleprompter ausfiel. Davor hatte er über die legale Kurdenpartei HDP hergezogen, deren charismatischer Chef Selahattin Demirtas seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus führen muss. „Die Oppositionellen haben durchaus Zulauf.“ Gegen Erdogan treten neben Dermitas die Ex-Innenministerin Meral Aksener an für das nationale Lager, sowie Muharrem İnce von der Republikanischen Volkspartei (CHP). „Ince wirft Erdogan Prunksucht, Machthunger, eine verfehlte Finanzpolitik vor. Er spricht das kemalistische Bürgertum, junge Intellektuelle, heimatlose junge und kurdische Wähler an, sie sind immerhin 20 Prozent“, sagt Krohn. Außerhalb des Landes gibt es rund drei Millionen Wahlberechtigte, in Deutschland leben knapp 1,5 Millionen. Eine wichtige Klientel für Erdogan: Während in der Türkei 53 Prozent für das Präsidialsystem stimmten, waren es in Deutschland 63 Prozent.

Experte rechnet mit Chancen des Herausforderers

Für Krohn sind das Folgen einer seit Jahrzehnten verschlafenen Integrationspolitik: „Die türkische und deutsche Seite, aber auch Unternehmen sahen sie als Gastarbeiter, die zurückgehen. Aber aus geplanten fünf Jahre sind 40 geworden.“ Integration hätte Geld gekostet. Nun gelte es, all das Versäumte nachzuholen. Die Frage sei, wie die Wahl ausgehe. „Hat Ince Chancen bei einer wirklich demokratisch Wahl?“, fragte eine Zuschauerin. Krohn bejahte. Indes betonte er, dass das Gros der Medien unter Erdogans Einfluss stehe. Auch habe der Präsident kein Interesse, den noch verhängten Ausnahmezustand aufzuheben. „Mit ihm lässt es sich leichter regieren.“ Wie die Zivilgesellschaft auf die unzähligen Berufsverbote reagiere? „Unzufrieden, aber die Menschen haben Angst“, so Krohn. „Es gibt Repression und Spitzelei. Man kann hoffen, dass sie in den Wahlkabinen gegen diese Angst kämpfen.“