In immer mehr Städten bieten Läden Produkte ohne Verpackung an. Reis, Nüsse, Linsen, Kekse und Eier liegen im Schütter oder im Korb aus, und die Kunden bringen ihre Döschen und Tüten selbst mit. Ein Zukunftsmodell?

Berlin - Zwei Dutzend durchsichtige Zylinder enthalten Dinkelkörner, Haselnüsse oder Reis. An einer dieser Schütten mit loser Ware holt sich eine junge Frau Studentenfutter, zum Naschen unterwegs für sich und ihre Tochter. Es knistert, als die Nüsse und Rosinen in die Tüte rutschen. Von ihren Freunden hat die Berlin-Besucherin vom kürzlich eröffneten Eckladen namens Biosphäre im Bezirk Neukölln erfahren, der viel mehr Lebensmittel lose verkauft als üblich und regionale Produkte bevorzugt. „So etwas“, sagt sie bedauernd, „gibt es bei uns nicht.“

 

Noch nicht jedenfalls. Der Gedanke, Waren unverpackt anzubieten, die sonst mehr oder weniger aufwendig verpackt sind, liegt im Trend. Einige Läden sind so konsequent, gar nichts Abgepacktes mehr im Sortiment zu führen. Und die ersten Gründerinnen planen, über ein Franchisesystem ein Netz solcher Läden für umweltbewusste Kunden in ganz Deutschland zu knüpfen. Precycling lautet die Parole: Es also gar nicht erst so weit kommen zu lassen, dass Plastiktüten oder Kartons entsorgt und mit Energieaufwand recycelt werden müssen.

Kekse im Glas, Eier aus dem Korb

Wenn Marie Delaperrière früher für ihre fünfköpfige Familie eingekauft und endlich alles ausgepackt hatte, ärgerte sie sich jedes Mal über den Berg an Verpackungsmüll. „Es war vom Volumen her fast genauso viel wie die Einkäufe selbst“, sagt sie. Schluss damit, hat sie sich vor gut einem Jahr geschworen und sich in Paris und London in Geschäften umgetan, die unverpackte Ware anbieten. Seit Februar besitzt sie selber eines.

Ihr Laden in Kiel heißt schlicht und einfach Unverpackt. Dort gibt es ausschließlich lose Ware: Trockenfrüchte aus der Schütte, Schokokekse, die man mit einer Zange aus dem Deckelglas nimmt, Eier aus einem mit Holzwolle gepolsterten Korb. Auch für das frische Obst und Gemüse, den Käse oder die Salate bringen immer mehr Leute Tüten oder leere Gefäße mit. An der Kasse werden Gläser oder Dosen zunächst ohne, dann mit Inhalt gewogen. Die Idee sei genial, versichern Kunden der Französin. Aus Erfahrung weiß sie: „Wenn ich die genau passende Menge bekomme, brauche ich nicht so viel wegzuwerfen.“ So wenig Müll zu produzieren wie möglich, das sei eben Zeitgeist.

Morgens Einkaufsliste abgeben, abends volle Tüte abholen

Das mit dem Zeitgeist muss stimmen, denn Delaperrières künftige Kolleginnen Sara Wolf und Milena Glimbovsky haben für ihren noch nicht existierenden Supermarkt Original Unverpackt in knapp einer Woche 70 000 Euro durch Crowdfunding zusammenbekommen. In Kreuzberg wollen sie auch, aber nicht nur Bio-Erzeugnisse verkaufen und suchen nach einem geeigneten Laden. Den mehr als 27 000 Spendern haben die Frauen versprochen, noch im Sommer ihr Geschäft für den Einkauf nach Maß zu eröffnen.

Auf die tatsächlich benötigte Menge bezieht sich Andrea Lunzer schon im Namen ihrer Maß-Greißlerei in Wien, wobei Greißlerei in Österreich der gängige Name für einen Tante-Emma-Laden ist. Auch sie führt ausschließlich lose Ware und lockt sogar mit einem Einpackservice: Morgens vor Arbeitsbeginn können viel beschäftigte Kunden den Einkaufsbeutel samt Einkaufsliste abgeben. „Wir arbeiten die Listen Punkt für Punkt ab, und abends, wenn die Kunden wiederkommen, steht alles schon bereit.“ Andrea Lunzer verkauft auch Vorratsgläser und freut sich darüber, dass viele Kunden mittlerweile eigene Gefäße mitbringen. Als Tochter von Biobauern sitzt sie an der Quelle und bezieht das Obst und Gemüse teils direkt vom elterlichen Hof. Das Café im Laden brummt.

Ob sich die Idee in unserer Gesellschaft durchsetzt?

Schon einige Jahre erfolgreich war das von Catherine Conway in London gegründete Geschäft Unpacked, ein Flaggschiff der Unverpackt-Szene. Es war wohl ein Fehler, den Laden um ein Restaurant und Café zu erweitern und dafür in einen anderen Stadtteil zu ziehen, denn Conway musste schließen. Doch aufgeben will sie nicht, sondern neu durchstarten und sich wieder auf das Kerngeschäft konzentrieren, den Handel mit loser Ware.

Während die Start-Up-Unternehmerinnen auf Unverhülltes setzen, ist Thomas Reiner, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Verpackungsinstitutes, schon von Haus aus skeptisch. Trockenprodukte wie Reis oder Rosinen lose anzubieten, na gut, sagt der Lebensmittelingenieur und Mitgründer einer Agentur, die internationale Konzerne und mittelständische Unternehmen in Verpackungsfragen berät. Alles, was den Aufwand reduziere und gleichzeitig die Hygienestandards beachte, sei im Prinzip sinnvoll. Aber doch nur, wenn die ohnehin schon riesigen Verluste von Lebensmitteln durch unsachgemäße Verpackung bei Ernte, Transport, Vermarktung oder auch in den Haushalten nicht noch größer würden. Außerdem, davon ist Thomas Reiner überzeugt, „kann man keinen Ballungsraum in großem Umfang mit loser Ware versorgen“.

Für einen guten Denkanstoß zu sparsamerem Verpacken und Verbrauch von Lebensmitteln hält Christiane Schnepel, im Umweltbundesamt zuständig für Verpackungsfragen, die Läden mit viel oder nur noch loser Ware allemal. In der Praxis allerdings erfordere der Einkauf einiges Umdenken und wesentlich mehr Planung, „und ob das sich durchsetzen wird, in unserer hochbeschäftigten Gesellschaft?“