Sven Mislintat weiß genau, wie Borussia Dortmund unter Jürgen Klopp so groß werden konnte - denn er war selbst dabei. Der ehemalige BVB-Chefscout will mit dem VfB Stuttgart einen ähnlichen Weg einschlagen. Er hält bedingungslos zu seinem Trainer.

Stuttgart - Sven Mislintat hat sich in seinem ersten Jahr als Sportdirektor des VfB Stuttgart vernachlässigt. Dem 47-Jährigen blieb nur wenig Zeit für Sport, dafür trank er jede Menge Kaffee.

 

Nach dem geglückten Aufstieg in die Fußball-Bundesliga will er sich zumindest etwas Erholung gönnen. Doch in den nächsten Wochen wartet erneut viel Arbeit auf den Kaderplaner.

Herr Mislintat, der VfB Stuttgart hat kurz vor Saisonende den direkten Aufstieg geschafft. Konnten Sie sich das Relegationshinspiel zwischen Bremen und Heidenheim also ganz entspannt anschauen?

Ich bin mehr als erleichtert, dass uns dies im Gegensatz zum letzten Jahr in diesem erspart geblieben ist. Sich die beiden Spiele gemütlich auf der Coach anzuschauen, ist die eindeutig angenehmere Variante, als aktiv dabei zu sein. Die Bilder und Emotionen unserer zwei Relegationsspiele gegen Union Berlin sind immer noch präsent.

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Apropos verhinderte Relegation, Heidenheims Trainer Frank Schmidt wollte den von Ihnen in Aussicht gestellten Whisky für seine Hilfe ja nicht annehmen…

Wir haben uns schon auf Gin geeinigt (lacht). Das ging sehr schnell. Als ich das mit dem Whisky gesagt habe, hat er mir direkt geschrieben: Whisky, Sven! Du müsstest das besser wissen! Meine Zusage steht, es zum richtigen Zeitpunkt zu organisieren.

Sie arbeiten jetzt über ein Jahr beim VfB Stuttgart. Ein Jahr, in dem es anstrengend zuging. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich komme aus dem Ruhrgebiet, es liegt mir in den Genen und ist meine Mentalität, viel zu arbeiten. Es charakterisiert mich, alles zu investieren, alle Energie, die ich in mir habe, in das, was ich tue, in diesem Fall für den VfB arbeiten zu dürfen, zu stecken. Selbst, dass es dazu führt, sich phasenweise zu vernachlässigen, habe ich erwartet: Denn es gibt keine zweite Chance für die ersten Monate, die erste Transferperiode. Wenn du von Beginn an nicht deine Idee, deine Philosophie reinbekommst, nicht deine Struktur implementierst, dann ist das kaum zu korrigieren und wird einem immer nachhängen.

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Trotzdem ist die Erwartungshaltung rund um den VfB enorm hoch. Kritik kommt schnell auf, Lob eher langsam. Wie gehen Sie damit um?

Gelassen für mich persönlich. Beim VfB stehst du immer auf dem Prüfstand, da hier in den letzten Jahren Vieles überhaupt nicht funktionierte. Es war sogar einer der elementaren Gründe, den Job anzunehmen, denn genau diese Herausforderung habe ich gesucht, sie motiviert mich und gibt mir Energie.

Sie kritisierten aber schon die aufkommende Kritik und die Erwartungshaltung während der Saison.

Ja. Aber nicht im Allgemeinen sachlich, fachliche Kritik, sondern im Speziellen despektierliche, grenzüberschreitende. Uns ist völlig klar, wenn man in der 2. Liga beim VfB oder anderen Traditionsclubs spielt oder arbeitet, dass man nur verlieren kann. Ich kann, sowie mit ihnen teilweise umgegangen wird, Spieler verstehen, die aufgrund dieses Drucks nicht an ihr Leistungsmaximum kommen. Sie sind auch nur und zudem meist junge Menschen. Wir befinden uns in einem Wettkampf, jeder hat Ziele, aber logischerweise werden diese auch von manchen Teams verpasst. Die Analyse, dass es dann immer an Mentalität und Charakter liegt, sie als Scheiß-Millionäre oder Söldner beschimpft werden, ist mir viel zu flach und ehrlich gesagt unverschämt.

Welche schönen Seiten haben Traditionsclubs denn?

Ich liebe das Spiel und das, was ich tue. Mein Antrieb, im Fußball zu arbeiten, war und wird es nie sein, Geld zu verdienen. Sondern es sind die Emotionen - Siege oder Niederlagen mit anderen zu teilen. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie ich Teil der Gruppe sein durfte, die mit 600 000 Menschen in Dortmund Titel gefeiert hat.

Beim BVB hat es selbst nach der Ankunft von Jürgen Klopp 2008 gedauert, bis die Erfolge kamen. Alles begann mit jungen, damals noch unbekannten Spielern wie Mats Hummels, Neven Subotic oder Sven Bender. Ist das ein Weg, mit dem der VfB sich identifizieren kann?

Der VfB hat mich auch ausgewählt, um mit einer ähnlichen Philosophie unsere eigenen Ziele zu erreichen. Das ist ja auch etwas, für das ich stehe und dessen Teil ich war. Ich habe 2006 beim BVB angefangen. 2008 kam mit Jürgen der entscheidende Erfolgsfaktor hinzu. Unsere Voraussetzungen sind andere als die des BVB damals. Aber das ist der Weg, den wir konsequent gehen wollen: Mut zu haben, jungen Talenten eine Plattform zu geben, sie weiter zu entwickeln und an sie zu glauben.

Trauen Sie Ihrem Trainer Pellegrino Matarazzo zu, ähnlich lange beim VfB zu arbeiten wie Jürgen Klopp beim BVB?

Ich glaube, dass man gar keinen Trainer mit Jürgen Klopp vergleichen darf. Da reden wir über einen der außergewöhnlichsten Trainer, die es gibt. Es wäre nicht fair, diesen Vergleich jüngeren Trainern zuzumuten. Was ich aber sagen kann: Von dem Weg, den Dortmund und Liverpool unter Klopp gegangen sind, kann man viel lernen.

Was denn?

Es braucht Zeit, etwas zu bauen. Unser Weg ist nicht in einem Jahr gegangen, sondern frühestens in drei. Und Rino wird der Trainer sein, mit dem wir dabei zusammen arbeiten werden. Ich persönlich werde diesen Trainer selbst im Falle eines schlechten Saisonstarts oder bei einem möglichen Abstiegskampf nicht in Frage stellen

Ihr Vertrauen in Matarazzo scheint grenzenlos.

Wir haben 2009 in Dortmund den Vertrag mit Jürgen Klopp verlängert, obwohl er sieben Spiele nacheinander nicht gewonnen hat. Das war ein extrem wichtiger Moment für die damalige Zusammenarbeit und den nachfolgenden Erfolg. Wir haben beim VfB den Vertrag mit Rino nicht verlängert, nur um das zu kopieren, die Gedanken dahinter waren aber die gleichen: Nämlich einen Trainer zu haben, von dessen Fach- und Sozialkompetenz wir absolut überzeugt sind.

Nach dem Aufstieg 2017 wurden die Ziele des Vereins offensiver formuliert. Der damalige Präsident Wolfgang Dietrich träumte davon, den VfB langfristig hinter den Bayern und dem BVB zu etablieren. Warum ist eine solche Zielsetzung aktuell illusorisch?

Weil die Realität es einfach nicht hergibt. Bayern München ist zum achten Mal nacheinander Meister geworden. Dortmund und Leipzig werden normalerweise immer unter den ersten vier Teams landen. Dann gibt es ein paar Mannschaften, die um Platz vier, fünf und sechs kämpfen. Wir werden beim TV-Geld-Ranking, je nach Ausgang der Relegation, 15. oder 16. sein. Das ist unsere Voraussetzung.

Und was ist Ihr Traum?

Man sollte immer träumen. Der Fehler dabei ist nicht groß zu denken, sondern in einem zeitlichen Rahmen. Unser kurzfristiges Ziel kann es nur sein, nächstes Jahr die Klasse zu halten und mittelfristig wird es eine große Herausforderung, die Menschen dafür zu sensibilisieren, dass das nicht nur für eine Saison, sondern auch für die darauffolgenden oberstes Ziel bleibt

Wie wird sich der Kader für die kommende Saison denn noch verändern?

Ohne Corona hätte wir in etwa 30 Millionen Euro mehr investieren können. Nun sind es in etwa fünf Millionen Euro. Nachdem wir Pascal Stenzel bereits fest verpflichten konnten, ist es ein offenes Geheimnis, dass wir auch gerne Gregor Kobel weiter in unserer Gruppe sähen. Da Nathaniel Phillips wohl zurückkehrt nach Liverpool und aufgrund der langwierigen Verletzungen von Marc Oliver Kempf und Maxime Awoudja werden wir noch einen Verteidiger brauchen. Dies allein wird schon sehr schwierig werden, innerhalb des vorhandenen Budgets zu realisieren.

Es ist also denkbar, dass kein Ersatz für Mario Gomez verpflichtet wird?

Ja, das ist denkbar, im Moment sogar realistisch. Da Erik Thommy zurückkommt und auf dem Flügel spielen kann, könnten Nicolas Gonzalez oder Silas Wamangituka auch ins Sturmzentrum rücken. Außerdem ist Sasa Kalajdzic nach seiner langen Verletzungspause ein gefühlter Neuzugang.

Auch auf der Abgabenseite könnte sich noch etwas tun. Silas, Orel Mangala oder Gonzalez werden immer wieder mit anderen Clubs in Verbindung gebracht.

Ich glaube, dass alle drei richtig Bock haben, mit dem VfB Stuttgart in der 1. Liga zu spielen und genau wissen, was sie an uns haben. Fakt ist auch: Außer Bayern München gibt es keine Clubs in Deutschland, bei denen es keine Schmerzgrenzen gibt. Es ist aber überhaupt nicht unser Plan, diese Spieler abzugeben und am Ende entscheiden nur wir. Alle drei wissen, wie jung sie sind und was der Trainer mit ihnen vorhat. Wenn man eine vernünftige Karriereplanung anstrebt, dann liegt mindestens das nächste Jahr für alle drei beim VfB.

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Wie erholen Sie sich denn mal vom VfB?

So richtig mit Yoga. Normalerweise schwimme ich viel, rudere und fahre Mountainbike. Das Wort „normalerweise“ suggeriert schon, dass ich meinem Sportkalender allerdings mit knappen acht Kilo zu viel Körpergewicht hinterher hinke (lacht).

Sven Mislintat (47) arbeitet seit etwas mehr als einem Jahr als Sportdirektor des VfB Stuttgart. Zuvor war der Familienvater als Chefscout von Borussia Dortmund maßgeblich an der Verpflichtung späterer Superstars wie Robert Lewandowski beteiligt. Von Ende 2017 bis Anfang 2019 war Mislintat beim FC Arsenal angestellt.