In England waren sie bekannt, in Deutschland Superstars: die Glamrock-Band Sweet. Keiner mischte in den frühen 70ern Teeniepop und Rock so erfolgreich wie sie. Bassist und Mitgründer Steve Priest ist nun mit 72 Jahren gestorben. Er hätte wohl noch viel zu erzählen gehabt.

Stuttgart - So wenig Taschengeld, so viele Bands: Popmusik war schon in den frühen 70er Jahren eine verdammt komplizierte Angelegenheit. Wer Woodstock gerade um ein, zwei Jahre verpasst hatte, weil er da noch Ponybilder ins Poesiealbum gemalt oder Segelflugzeuge aus Balsaholz zusammengeleimt hatte, war der Verwirrung ausgeliefert. Viele Bands waren bereits psychedelisch durchgeknallt oder kunstpopverzwirbelt, die Beatles und andere Melodielieferanten rochen dafür ein wenig altmodisch. Die hatten bereits der große Bruder oder die große Schwester gehört, außerdem war die Band bereits aufgelöst: also fast schon Stoff für öden Schulunterricht. Zum Glück gab es The Sweet – eine britische Gruppe, die den idealen Schnittpunkt aus koffeinstarkem Elternschreck, Mitsingkapelle für Einsteiger und glitzerbunter Candy-Store-Deko bildete.

 

Der Mitbegründer der genialen Mixtur war der Bassist und Sänger Steve Priest. The Sweet kam im März 1968 in London erstmals zusammen, in einer Stadt, in der es mehr Bands als Pflastersteine gab. Den Jungs von The Sweet und den Herren von der Plattenfirma war von Anfang an klar, dass noch ein paar nette Songs kaum auffallen würden, also schälten sich die Bandmitglieder in schrille Klamotten, deren Schneider vermutlich mit Schweißerschutzbrille gearbeitet hatten, um nicht blind zu werden.

Glamrock, wie die Fashion-vom-Mars-Attacke hieß, war da schon ein großes Ding: Acts wie Gary Glitter, T. Rex und Wizzard hatten den Markt fest im Griff. The Sweet aber fanden die Lücke: Sie mischten putzigen Bubblegum-Pop für die Bräveren mit dem Harmoniegesang der Hollies und ein wenig Kantigkeit a la The Who. Zu deren Fans gehörten neben Steve Priest auch alle anderen: Sänger Brian Connolly, Drummer Mick Tucker und Gitarrist Andy Scott.

The Sweet schrieben ihre Songs zunächst nicht selbst, aber sie waren in den guten Händen von Nicky Chinn und Mike Chapman, die zusammen oder einzeln auch noch Suzi Quatro, Smokie, Tina Turner, Blondie und viele andere beliefern sollten. Mit „Funny Funny“ ging’s 1971 los, es folgten Teenie-Megahits wie „Ballroom Blitz“ (1973) und „Fox on the Run“ (1975) – letzteren Hit hatte eine selbstbewusstere Band, die jetzt abgekürzt nur noch Sweet hieß, bereits selbst geschrieben

In ihrer Heimat England waren sie zwar beliebt, die meisten Fans aber gewannen Sweet in Deutschland und Skandinavien. Mit ihren üppigen Mähnen, ihren besternten Stiefeln mit bügeleisenhohen Sohlen und ihren lila-purpur-knallrot-quietschgelben Bühnenoutfits sahen sie aus wie Superhelden vom Planeten der Filzstifte. Irgendetwas machte da Klick im grauen Deutschland, in dem viele Elternhäuser noch von mürrischen Spießern dominiert wurden.

Die Liveshows der Sweet wurden allmählich wilder, aber das Leben hinter der Bühne toppte das. Suff und Drogen, Egotrips und jede Menge Zank: 1979 war die Band eigentlich am Ende, der schwer alkoholkranke Brian Connolly flog raus oder ging, je nachdem, wem man glauben mag, und Steve Priest übernahm die Führungsrolle bis zum Aus 1982. Es gab danach wie bei vielen Bands Reunionversuche und zeitweilig zwei konkurrierende Gruppen ehemaliger Mitglieder, die je als einzig wahres Original unterwegs waren. Steve Priest führte eine davon, und man merkte ihm in Interviews und seiner Autobiografie „Are you ready, Steve“ von 1995 an, wie gespalten er war: Einerseits froh, das alles überlebt zu haben und das auch noch in besserem Zustand als Brian Connolly, andererseits betrübt, dass die wilden Zeiten vorbei waren.

Am 4. Juni 2020 ist Steve Priest in Kalifornien, wo er mit seiner Familie schon lange lebte, gestorben. Mit ihm sind wohl eine Menge noch unerzählter Geschichten von damals ins Grab gegangen: Man muss sich im Zeitalter des Rap manchmal zwicken, um zu glauben, dass es The Sweet überhaupt gab.