Mit einem schweren Programm und einigem Gemeinschaftswillen geht das SWR Symphonie Orchester in der Stuttgarter Liederhalle in die Saison und schlägt ein neues Kapitel auf.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Gut möglich, dass hierzulande die Vokabel vom „abgeholt werden“ ein bisschen inflationär im Redegebrauch ist. Gegen häufigere praktische Umsetzung der Formel wäre demgegenüber nichts einzuwenden. So sah es auch, verstand man’s recht, am Morgen nach dem Auftaktkonzert im SWR-2-Radioprogramm das „Wort zum Tag“, in dem, passenderweise, vom „Ich“-Ohr und vom „Du“-Ohr die Rede war. Während das eine sich selbst lausche, lauschen müsse, öffne sich das andere idealer- und vorzugsweise der Welt: „Höre, Israel!“ Oder ähnlich. Multimedial organisiert, wie man so ist und sein soll, nahm man da parallel auf der neuen Website SWR Classic zur Kenntnis, es habe am Abend zuvor einen „flotten Mahler“ in der Liederhalle gegeben. Gemeint war das Adagio aus der Zehnten Sinfonie, gegeben vom neuen SWR Symphonieorchester. Flott, ja? Nicht im Ernst, oder?

 

Und, nein, leider, es hatte einen offiziell dann doch keiner abgeholt am Abend zuvor, bevor, immerhin, doch eine Zeitrechnung beginnen sollte: fusioniertes Orchester, vorerst ohne Chefdirigenten, und jede Menge Menschenschicksale und Hörerteilleben, die an so was hängen, wie die Diskussionen in den letzten Jahren gezeigt haben. Trotzdem: kein Wort dazu von Intendanz oder sonst wem, nicht Verbindliches, Verbindendes gar von der Bühne, wo man so tat, als sei alles, wie immer: das „Du“-Ohr also komplett zu. Sehr gut möglich, dass in Deutschland zu oft (und oft zu schlecht) offiziell geredet wird. Anlassgemäß jedoch wäre man selbst für ein paar rhetorische Unbeholfenheiten dankbar gewesen. Schade? Schade.

Enttäuschte Liebe in allen Varianten

Es hob also an, bei, nebenbei gesagt, nicht unbedingt geschmackssicherer Beleuchtung (changierend von Türkistönen zu semipuffigem Magenta) ein Konzertprogramm, dem man deutlich das dramaturgische Köpferauchen in der Vorbereitungsphase anmerkte. Um aufs Ganze vorzugreifen: drei von vier Stücken, angefangen von Kaija Saariahos „Cinq Reflets“ über Mahlers Adagio und hin zu Béla Bartóks Suite „Der wunderbare Mandarin“ beschäftigten sich inhaltlich mit der Unmöglichkeit von Liebe, und zwar in der Verfehlungs-, Trauer- und Triebvariante. Das ist dann schon ziemlich harter Tobak für eine Vorstellungsveranstaltung, um die es sich ja nun mal handelt. Anders gesagt: So ein ganz kleines bisschen freundliches Handausstrecken wäre vielleicht nicht schlecht gewesen, wobei es nicht immer Mozart sein muss. Man darf nicht lange dran denken, aber: Was hätte ein Orchester- und Publikumserzieher wie Leonard Bernstein, der schon hochelektrifiziert online war und weltweit aktiv, bevor es Netze gab, aus dieser Situation gemacht? Nur zum Beispiel: ein Fest. Mit dem „Du“-Ohr.

Aber noch mal von vorn: Ließ man sich direkt drauf ein, hatte Kaija Saariahos Elegie in Farben, „Cinq Reflets“, das halbstündige Destillat aus ihrer im Jahr 2000 in Salzburg uraufgeführten Oper „L’Amour de loin“, natürlich bezwingende Momente, nämlich dann, wenn der Dirigent Péter Eötvös, der einen feinen Sinn für die historische Verwandtschaft von Stücken hat, die Partitur im Sinne von Olivier Messiaen, dem sie viel verdankt, keusch flirren ließ: mit sehr intensiven Streichern vor dem Perkussionshintergrund des perfekt abgestimmten Orchesters. Eötvös intensivierte dabei die Farben mit jener exakten Dosierung, die Kaija Saariaho im Sinn gehabt hatte. Die Gesangsprotagonisten hingegen, der Bariton Russell Braun und die Sopranistin Pia Freund, mit sehr breitem Französisch, gingen da rustikaler zu Werke.

Das Ereignis Patricia Kopatchinskaja

Anschließend das Adagio aus Gustav Mahlers Zehnter Sinfonie, das Eötvös so ähnlich las, wie es auch Michael Gielen seinerzeit mit dem SWR-Orchester Baden-Baden und Freiburg angelegt hatte: Gielen sprach damals, übertreibenderweise, von der vergleichsweise „plumpen Instrumentation“, die selbst der noch ausgeführten Partitur eigen sei. Betont wurde also das Skizzenhafte, Brüchige, Fragmentarische, aber auch alles möglich Singende, leicht differenziert im Tempo. Nur flott, nein, flott war es dann doch eher nicht.

Wie meist, wenn die schwierigen Dinge des Lebens nicht so recht in Fluss kommen wollen, brauchte es eine entschiedene Frau, die mit Händen und Füßen (!) agierte. Und hier war sie: Die moldawische Geigerin Patricia Kopatchinskaja, vorausschauend auch in Hamburg schon mal gebucht für die Eröffnungsfeierlichkeiten der Elbphilharmonie im Januar 2017, ist eines dieser seltenen natürlichen Künstlerwunder, die sich, bairisch gesprochen, „nichts scheißen“. Buchstäblich machte sie Péter Eötvös’ Violinkonzert „DoReMi“, einem materialreichen Parforceritt mit aberwitzigen Glissandi und harmonischen Höllenstürzen, Beine. Kopatchinskaja würde es „richten“, hatte der Künstlerische Leiter, Johannes Bultmann, vorher prophezeit. Und bekam recht auf ganzer Linie. Eötvös’ Stück hatte die zeitgemäße Friktion, die vorher gefehlt hatte, und das Orchester als Einheit ließ sich mit- und hinreißen von Patricia Kopatchinskaja, die motorisch zugleich als Schlangenbeschwörerin und, aufstampfend, wie beim Kirchweihtanz, völlig losgelöst, agierte. Kunststück: Sie hatte das Werk gleichsam internalisiert. Das war hochartifiziell wie bodennah und ein Ereignis. Entsprechend erwachte auch das bereits leicht sedierte Publikum in der längst nicht ausverkauften Liederhalle. Und hatte emotionale Bindung. Man sollte diesen Teil des Geschäfts nicht gering schätzen.

Ein herumtippelnder Gustav Mahler

Dementsprechend gegenmotiviert ging das SWR Symphonieorchester noch mal in die ganz Vollen: Béla Bartóks „Der wunderbare Mandarin“ war, hellwach musiziert, dynamisch denkbar subtil abgestuft (vor allem in Blech und Holzbläsern) eine einwandfreie Visitenkarte. Ja, man hatte den Eindruck, als hätte der mit Bartók sozialisierte Eötvös hier durchaus noch mehr verlangen können von seinem Ensemble. Zumindest aber schien nach dem Eötvös-Konzert die Gleichung schon einmal aufzugehen: Eins und eins das macht eins. Die Orchestergruppen und Pulte fremdelten keineswegs miteinander. Auf der anderen Seite: Das war jetzt erst ein Konzert. Es folgt die Bewährungsprobe bei den Musiktagen in Donaueschingen und Ende Oktober dann ein mit Igor-Strawinsky-Werken gespickter Abend unter Dima Slobodeniouk, womöglich ein echter Kandidat auf zukünftige Dauerzusammenarbeit.

Bis dahin gilt es fürs Publikum, sich mit ein paar weiteren Neuerungen anzufreunden, beispielsweise hübsch animierten Einführungen ins Abendgeschehen auf dem oben beschriebenen Kanal, wo dieses Mal ein herumtippelnder Gustav Mahler die Führung übernommen hatte, ehe Orchestermitglieder, die man da grundsätzlich gerne im Bild sieht, konzertante „Gänsehautgefühle“ versprachen, was vielleicht nicht unbedingt sein müsste. „Ich“ und „Du“-Ohren reichen. Offen bleiben!