In einem Alter, in dem andere in ihrem Beruf so richtig durchstarten, stehen Tänzer häufig vor dem Aus: Nach langer Ausbildung und einer intensiven, aber kurzen Bühnenkarriere müssen sie sich neu orientieren. Wie Elena Tentschikowa, die sich verletzungbedingt vom Tanz verabschieden musste, ein Pilates-Studio in München gründete – und damit totunglücklich war.

Stuttgart - Als Elena Tentschikowa am Ende der Spielzeit 2008/2009 auf Grund einer nicht zu überwindenden Verletzung ihren Abschied als Erste Solistin nahm, schien ihre berufliche Zukunft geregelt zu sein. „Sie beendet ihre Karriere und eröffnet ein Pilates-Studio in München“, teilte das Stuttgarter Ballett damals mit – knapp und klar. Doch dabei blieb es nicht. Vielmehr kam es so, wie es sich das Mädchen Elena schon im Kindesalter ausgemalt hatte, als sie den strengen Korrekturen ihrer Ballettlehrerin keck widersprach: „Ich werde ohnehin keine Tänzerin, ich werde Lehrerin.“

 

Nun waren diese entschiedenen Worte nur zum Teil prophetisch. Denn zunächst wurde aus der in Russland geborenen und an der Vaganova Ballett Akademie in Leningrad ausgebildeten Elevin sehr wohl eine Tänzerin. Und was für eine: 1990 wurde Tentschikowa Mitglied des Kirov Balletts, das seit 1992 wieder seinen ursprünglichen Namen Mariinsky trägt. 1993 wechselte sie als Erste Solistin ans Theater Magdeburg, bekam dort 21-jährig eine Tochter.

Nur wenige Wochen nach der Geburt kehrte die frisch gebackene Mutter auf die Bühne zurück. 1997 kam Tentschikowa dann zum Stuttgarter Ballett. Dort verkörperte sie mit ihrer herausragenden Technik und ihrem eindrücklichem Spiel viel klassischen Rollen, darunter Giselle, die Sylphide, die Doppelrolle Odette/Odile in „Schwanensee“, Aurora in Marcia Haydées „Dornröschen“ sowie Tatjana, Julia und Katharina in John Crankos berühmten Handlungsballetten. Doch sie machte sich auch Marco Goeckes avantgardistischen Bewegungsstil zu Eigen. Unvergessen: ihre in den Bann ziehende Interpretation der Klara in dessen düster-traumhaftem „Nussknacker“.

Die Ausbildung zur Pilates-Trainerin drängte sich auf

Wer seit Kindesbeinen für die Tanzkunst täglich Muskeln, Sehnen und Gelenke kräftigt und geschmeidig hält, kennt seinen Körper und kümmert sich um Schwachstellen mitunter durch Trainingsformen außerhalb des Ballettsaals. Tentschikowa setzte dabei auf die von Joseph Hubert Pilates in Deutschland und in den USA entwickelte und nach ihm benannte Körperarbeit. Sie beruht auf Elementen aus dem Yoga, Turnen und Kampfsport. „Ich habe Pilates zunächst nur für mich selbst gemacht“, erzählt die ehemalige Erste Solistin. Unterrichtet wurde sie von einer ausgewiesenen Expertin, die sie vor Ort in Stuttgart fand: Davorka Kulenovic-Bischoff. Diese war selbst Tänzerin gewesen und hatte die Methode in New York direkt von einer Schülerin von Pilates gelernt. Tentschikowa erinnert sich: „Irgendwann sagte Davorka zu mir: ,Jetzt hast du schon so viele Unterrichtsstunden hinter dir. Willst du nicht eine Ausbildung zur anerkannten Pilates-Trainerin machen?‘“

Mit Blick auf den Einschnitt, der das Leben jeder professionellen Tänzerin irgendwann in ein Davor und Danach teilt, ging die Erste Solistin auf diesen Vorschlag ein. Parallel zum Trainings- und Probenalltag widmete sie sich Pilates nun auch mit beruflichen Ambitionen. Bei ihrem Ausscheiden aus der Kompanie 2009 war daher klar: Elena Tentschikowa geht nach München und gründet dort ein Pilates-Studio – nicht primär für Tänzer, sondern für alle, die ihren Körper fit und gesund halten möchten. „In München habe ich viel gelitten und geweint“, sagt Elena Tentschikowa unumwunden. „Ich vermisste das Theaterleben: die Musik, die Emotionen, die Gerüche im Ballettsaal – sie sind für mich wie der Duft einer Mutter.“

An der Cranko-Schule war zur richtigen Zeit eine Stelle frei

Kein Wunder! Viele Tänzer beginnen im Grundschulalter oder noch früher mit dem Ballettunterricht. Über Jahrzehnte spielt sich das Leben an der Stange, in den Proben und auf der Bühne ab. Da wird die Welt des Balletts zu einem Zuhause, das man rund um die 40 hinter sich lassen muss – ein einen früher, die anderen später. Und auch wenn sich im Münchner Pilates-Studio weiterhin alles um den Körper, seine Kraft und Funktionsfähigkeit drehte: Nun war er losgelöst von der Kunst, von seiner Aufgabe zu gestalten, zu erzählen und Gefühle wachzurufen.

„Ich hatte mich regelrecht verloren und einige Zeit gebraucht, bis ich mich wieder gefunden habe“, resümiert die ehemalige Tänzerin und ergänzt: „Zeit ist auch hier der beste Doktor.“ Sie brachte Tentschikowa die Einsicht, dass der eingeschlagene Weg doch nicht der richtige für sie war. Also ging sie 2010 in die USA, um an der Kirov Academy of Ballet in Washington D.C. Erfahrung als Pädagogin zu sammeln. Zeitweise gab sie an der Münchner Bosl-Stiftung Training und schloss ihre Ausbildung zur Tanzpädagogin schließlich in Stuttgart ab. Dort war an der John-Cranko-Schule zur richtigen Zeit die Stelle einer Ballettlehrerin zu besetzen.

Tentschikowas Tochter tanzt in St. Petersburg

„Es ist Schicksal: Nun bin ich tatsächlich Lehrerin geworden.“ Damit erfüllte sich, was sie als junge Ballettelevin schon so sicher zu wissen glaubte. Und auch wenn sie an der staatlichen Ballettschule kein Pilates unterrichtet, ab und an hilft ihr diese Methode durchaus: „Im Ballett arbeitet man mit den äußeren Muskeln“, erklärt sie. „Bei Pilates werden die inneren, tiefer liegenden Muskeln aktiv.“ Das fördert eine starke Körpermitte und gibt Stabilität.

Elena Tentschikowas Tochter ist mittlerweile erwachsen und hat beim St. Petersburger Mikhailovsky-Theater ein Engagement als Tänzerin. Auch sie wird irgendwann vor der Frage stehen: Was nun? Welchen Tipp für das noch weit entfernte zweite Berufsleben junger Tanztalente hat Elena Tentschikowa parat? „Jede Person muss selbst herauffinden, was sie will und tun möchte“, weicht sie einer pauschalen Antwort aus. „In jedem Fall sollte man den Beruf studieren, auf eine gute Ausbildung setzen.“ Und würde sie ihren eigenen beruflichen Wechsel aus heutiger Sicht besser oder anders vorbereiten? Da ist sie skeptisch. Schließlich lebt man als Tänzerin im Moment, überhört das Ticken der Uhr: „Ich habe nie darüber nachgedacht, was später ist: Du lebst! Du tanzt!“