3,2 Prozent beträgt das durchschnittliche Tariflohnplus im ersten Halbjahr – ein Höchstwert seit zwei Jahrzehnten. Trotz der Konjunktureintrübung sehen Wirtschaftsforscher darin aber noch keine Gefahr für die Unternehmen.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der durchschnittliche Tarifzuwachs in Deutschland hat im ersten Halbjahr ein Rekordniveau von 3,2 Prozent erreicht – so stark sind die nominalen Tariflöhne seit der ersten vergleichbaren Berechnung im Jahr 2000 nicht gestiegen, wie das Tarifarchiv des Wirtschaftsinstituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung feststellt. In der Berechnung sind lang laufende Tarifverträge der Vorjahre genauso enthalten wie die Tarifabschlüsse von Januar bis Juni dieses Jahres. Bei einem Anstieg der Verbraucherpreise von 1,6 Prozent im ersten Halbjahr ergibt sich somit ein Reallohnplus von 1,6 Prozent. Unter Berücksichtigung der Inflationsrate gab es schon mehrfach höhere Zuwächse.

 

Eine völlig konträre Entwicklung

Der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten, sieht in dem Trend dennoch „einen wichtigen Beitrag, einer sich abkühlenden Konjunktur durch eine starke Binnennachfrage entgegenzuwirken“. In der Tat ergibt sich derzeit eine völlig konträre Entwicklung: Relativ hohe Tarifzuwächse stehen vermehrten Personalabbauprogrammen gerade in der Industrie sowie einer spürbaren Konjunkturflaute gegenüber. Für Roland Döhrn, den Konjunkturchef am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen, ist dies aber kein Grund, in der Lohnpolitik das Ruder herumzuwerfen. „Wir würden empfehlen, die Tarifpolitik nicht an der Konjunktur auszurichten“, sagte er unserer Zeitung. „Das kann aufgrund der inzwischen langen Laufzeit der Tarifverträge, die ja auch den Unternehmen Planungssicherheit gibt, ohnehin nicht funktionieren.“ Tarifverträge seien zu träge, um auf die Konjunktur zu reagieren. Unternehmen hätten aber reichlich Möglichkeiten, über die sogenannte Lohndrift ihre tatsächlichen Lohnzahlungen zu beeinflussen. Gemeint sind Abweichungen vom Tariflohn nach oben oder unten – durch Zulagen zum Beispiel.

Forscher empfiehlt „Tarifpolitik der ruhigen Hand“

Daher präferiert Döhrn „eine Tarifpolitik der ruhigen Hand“: „Ich würde immer versuchen, eine Lohnpolitik an den langfristigen Arbeitsmarktbedingungen zu orientieren und nicht auf jede kurzfristige Schwankung hektisch zu reagieren“, sagt der Wissenschaftler. Würde man jetzt einen starken Lohnverzicht in den Tarifverträgen üben, ginge dies zu Lasten der Kaufkraft und würde auch ein falsches Signal aussenden. Die Tariflohnentwicklung müsse eher einer langfristigen Leitlinie folgen. Da seien etwa die Wertschöpfungspreise der Unternehmen von zentraler Bedeutung – also die Preise, die die Firmen am Markt durchsetzen können. Diese stiegen momentan mit gut zwei Prozent. Bei einem langfristigen Produktivitätswachstum von überschlägig einem Prozent und einem dauerhaften Inflationsanstieg um eineinhalb Prozent pro Jahr würde ein Lohnanstieg von etwa zweieinhalb Prozent die Beschäftigung nicht gefährden, meint Döhrn. „Da haben wir einen Spielraum, der momentan auch genutzt wird.“

Von Rezession kann noch keine Rede sein

In ungünstigen konjunkturellen Lagen sollte man auch nicht versuchen, über niedrige Tariflöhne Arbeitsplatzsicherung zu betreiben. „Wenn der Automobilsektor wegbricht, fangen wir das nicht auf, wenn die Löhne zwei oder drei Prozent weniger steigen.“ Dann wäre zwar die Beschäftigung tangiert, doch dafür gebe es auf Betriebsebene die Flexibilitätsinstrumente.

Die seit gut einem Jahr währenden Probleme der Automobilindustrie sieht Döhrn dennoch mit Unbehagen. „Da mache ich mir schon Sorgen um die deutsche Wirtschaft.“ Zugleich zeige sich aber eine „untypische Spreizung“ in der Konjunktur, weil sich die Probleme der Industrie noch nicht auf andere Bereiche ausgewirkt hätten. Beispielsweise laufe der Bau noch relativ stark, und auch die industrienahen Dienstleistungen seien erstaunlich robust geblieben, während es in den öffentlichen Diensten sogar einen starken Personalaufbau gebe. Kurzum: „Von einer Rezession würde ich noch nicht reden“, sagt der Essener Forscher. „Aber die Gefahren sind eindeutig größer geworden.“