Der Leverkusener demonstriert eindrucksvoll, dass es doch noch echte Straßenkicker gibt. Und die kämpfen um jeden Elfmeter, komme, was wolle.

Stuttgart - In diesen Zeiten der Fußball-Nachwuchsinternate, der 3-D-Analysen und Interviewschulungen wird ja gern beklagt, es gäbe keine echten Straßenkicker mehr. Keine dieser harten Jungs aus Schrot und Korn, die sich einst auf staubigen Bolzplätzen durchsetzen mussten, auf denen die wichtigste Regel von jeher lautete: Chef ist derjenige, dem der Ball gehört. Gut zu wissen also, dass es doch noch einen gibt: Sidney Sam von Bayer Leverkusen.

 

Samstag, kurz nach fünf im Nürnberger Stadion: Bayer führt gegen den Club mit 2:0, das Spiel ist entschieden, die Champions-League-Teilnahme besiegelt, als es in der 81. Minute noch einen Elfmeter für Leverkusen gibt. Den ersten hat Stefan Kießling stramm verwandelt, nun eröffnet sich die zweite Chance, entscheidenden Boden im Kampf um die Torjägerkanone gutzumachen. Ein weiterer Treffer noch, und Kießling würde mit 24 Saisontoren die alleinige Führung vor dem Dortmunder Robert Lewandowski übernehmen. Dem ganzen Stadion ist folglich klar, wer zur Ausführung dieses Strafstoßes schreiten würde. Nur einer hat etwas dagegen: Sidney Sam.

"Er wollte schießen, ich wollte schießen"

Clever wie er ist, hat sich der Mann, dessen Hals eine Tätowierung seiner Initialen ziert, den Ball geschnappt, als Kießling, der Gefoulte, noch am Boden lag. Und Sam denkt gar nicht daran, ihn wieder herauszurücken. Fest hält er den Ball umklammert und lässt sich von niemandem beirren. Nicht von seinem Sturmpartner Kießling, der flehentlich um die Übergabe des Spielgeräts bittet. Nicht von seinem Kapitän Simon Rolfes, der mit diplomatischen Vermittlungsversuchen interveniert. Und schon gar nicht von seinem Trainer Sami Hyypiä, dem sonst so unterkühlten Finnen, der draußen an der Seitenlinie einen Tobsuchtsanfall erleidet. „Das ist mein Ball“, denkt sich Sam und legt ihn auf den Elfmeterpunkt. Dann läuft er an, schießt – und trifft den Pfosten. Zwei Minuten dauert es, bis sich Sam auf der Ersatzbank wiederfindet.

„Er wollte schießen, ich wollte schießen – natürlich habe ich mich geärgert“, sagt Kießling hinterher und gibt sich trotzdem gönnerhaft: „Er hat sich entschuldigt, es ist also alles wieder gut.“ Glück für Kießling, dass am Abend auch Robert Lewandowski einen Elfmeter verschießt und seinerseits die Chance verpasst, sich einen kleinen Vorsprung zu verschaffen. In Dortmund gab es niemanden, der gewagt hätte, dem polnischen Stürmer die Ausführung des Strafstoßes streitig zu machen. Womit wieder einmal klar wird: allzu viele Straßenkicker gibt es wirklich nicht mehr.