Ein langer Tunnel, haushohe Messgeräte und Bauteile, die kälter sind als das Universum: ein Besuch beim Forschungszentrum Cern. Sein Teilchenbeschleuniger, der stärkste der Welt, wird gerade umgebaut, um bald mit doppelter Energie wieder loszulegen.

Genf - Die Weltmaschine ist abgeschaltet. Der Teilchenbeschleuniger LHC macht Umbaupause. Voraussichtlich zwei Jahre lang, noch bis Anfang 2015, wird die gewaltige wissenschaftliche Anlage, die gerne mit dem Ehrentitel Weltmaschine geschmückt wird, repariert, gewartet und aufgerüstet. Deshalb sind die Magneten abgeschaltet, durch die sonst ein Strom wie in zehntausend Waschmaschinen auf einmal fließt. Deshalb rasen durch den 27 Kilometer langen Ringtunnel keine Elementarteilchen mehr mit Energien jenseits alles Vorstellbaren. Und deshalb kann in diesem Tunnel, der ein wenig schräg 70 bis 100 Meter tief im Molasseuntergrund des Grenzgebiets der Schweiz und Frankreichs bei Genf liegt, im Moment kein flüssiges Helium austreten, das kälter ist als das Weltall und dementsprechend gefährlich für Menschen.

 

Deshalb, und nur deshalb, darf ich mir einen blauen Helm aufsetzen, eine Sicherheitsschleuse passieren und einen spartanischen Aufzug besteigen. Man kommt sich vor wie bei der Abfahrt in ein Bergwerk, allerdings ohne Erz- oder Kohlestaub. Der Helm ist hier Vorschrift, festes Schuhwerk auch. Und Menschen mit metallhaltigen Implantaten im Körper dürfen in die Welt der supraleitenden Supermagnete nicht hinunter, auch wenn diese abgeschaltet sind.

75 Meter tiefer stehen wir dann auf einer Galerie, rund zwanzig Meter über dem Boden einer Kaverne, und mindestens genau so weit unter ihrer Decke. Der Raum ist ausgefüllt mit einem Gerät, das Christoph Rembser, Physiker und seit 1997 beim Cern, als „nichts anderes als eine große Kamera“ beschreibt. Die Kamera heißt Atlas und ist ein Zylinder mit 25 Meter Durchmesser, 46 Meter Länge und einem Gewicht von 7000 Tonnen. Es ist unmöglich, diese Ausmaße zu erfassen; dazu stehen wir zu nah dran. Atlas kann Fotos machen mit 100 Millionen Pixeln, 40 Millionen Bilder in der Sekunde.

Das Higgs-Teilchen ist entdeckt? Nun ja, eins, das ihm ähnlich ist

Das hat er getan, fast drei Jahre lang, vom 30. März 2010, als der Large Hadron Collider (LHC) nach einer anfänglichen Panne seinen Betrieb aufnahm, bis zum 14. Februar 2013, als der Teilchenstrahl abgeschaltet und die Umbaupause begonnen wurde. In den Bildern, die Atlas aufgenommen hat, entdeckten die Physiker eine Sensation, die den LHC berühmt machte, soweit er es nicht schon war: sie fanden deutliche Anzeichen für ein „Higgs-ähnliches“ Teilchen. Der britische Physiker Peter Higgs – und unabhängig von ihm gleichzeitig andere – hatte es Mitte der sechziger Jahre vorhergesagt. Seit dieser Zeit wurde das Higgs-Teilchen gesucht.

Nun hört und liest man, das Higgs-Teilchen sei entdeckt. Doch in der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) in Genf, die den LHC betreibt, vermeidet man diese Formulierung. Dort sagen sie: Wir haben nicht das Higgs-Teilchen entdeckt. Wir haben ein Higgs-Teilchen entdeckt. Ob es das gesuchte ist, und ob die Theorie der Elementarteilchen nicht erweitert werden muss, das ist eine der spannenden Fragen, die der LHC nach dem Umbau beantworten soll, in der nächste Messkampagne ab 2015.

Atlas ist nur eines von vier hochhausgroßen Messinstrumenten rund um den 27-Kilometer-Ring des LHC. Ein anderer heißt CMS. Der 12 500-Tonnen-Koloss funktioniert anders als Atlas, und deshalb war die Begeisterung im Cern um so größer, als auch CMS das Higgs-Signal auf dem Schirm hatte. Die weiteren zwei heißen Alice und LHCb. Sie dienen anderen Zwecken.

Wenn man von Atlas zu Alice will, nimmt man den Aufzug nach oben und setzt sich in ein Auto. Man überquert die Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich und fährt durch die ländliche Region des Pay de Gex bis zur nächsten schmucklosen Halle mit Bergmannsaufzug nach unten. Alice ist ein weiteres, zylinderförmiges Messungetüm, das den Teilchenstrahl umschließt: 16 Meter Durchmesser, 26 Meter lang, 10 000 Tonnen schwer.

Die Detektoren verfolgen die Bahnen der Trümmerteilchen

Alices große Zeiten kommen immer dann, wenn der Protonenstrahl gestoppt wird und stattdessen die viel größeren und schwereren Kerne von Bleiatomen auf die Rennbahn geschickt werden. Wenn diese aufeinander prallen, ist es, als würden sich nicht zwei Gewehrkugeln treffen, sondern zwei ganze Munitionskisten. Der Aufprall lässt die Materie bis ins Kleinste zerplatzen, Quarks und Gluonen, die Bestandteile atomarer Teilchen wie Protonen und Neutronen, lösen für Sekundenbruchteile ihre ansonsten sehr engen Bindungen auf. Es entsteht ein Quark-Gluon-Plasma, wie es eine bis zehn Mikrosekunden nach dem Urknall existiert haben muss. „Wir können dann beobachten, auf welche Art ein Quark, das durch dieses Plasma fliegt, seine Energie verliert. Das sagt uns: wie zäh ist der Klumpen?“, sagt Johannes Wessels, stellvertretender Sprecher der Alice-Kooperation. Und diese Zähigkeit wiederum erzählt viel über die Entstehung der starken Kernkraft und den Urknall überhaupt.

Wie die gewaltigen Messapparaturen am LHC arbeiten, kann man bei Alice, hundert Meter unter der Erde, erahnen, wenn man durch ein kleines Stück des Tunnels läuft. Hier muss Oliver Brüning sich gegen ein brüllendes Gebläse durchsetzen. „Die größte Herausforderung war die Entwicklung der Magnete“, sagt er und deutet auf meterdicke Rohre in Grau, in Blau, in Rot und manchmal auch in Alufolie eingewickelt. Hier wird gebaut; an einer Stelle ist der Strahlverlauf unterbrochen. Einer der Magnete, welche die Rolle einer Autobahnauffahrt für neues Teilchenmaterial in den rasenden Teilchenstrom spielen, wird gerade ausgetauscht.

Ein Stück weiter sieht man die beiden Strahlrohre, etwa armdick, wegen der Bauarbeiten ohne Kühlmantel. Durch sie rasen die Teilchen mit 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit in entgegengesetzten Richtungen, bis sie dann, mitten in Atlas, Alice und Co., zu Frontalkollisionen gebracht werden. Ihre Energie wird durch den Umbau von derzeit 3,5 Teraelektronenvolt auf sieben TeV erhöht. Die bei der Kollision entstehende Kaskade von Trümmerteilchen enthält die Information, welche die Physiker suchen. Ihre gewaltigen Messapparaturen bestehen im Prinzip aus unzähligen Schichten von Detektoren, die ein Signal abgeben, wenn ein Teilchen sie passiert. Führt man diese Signale später im Computer zusammen, entsteht ein Bild der Flugbahnen der Trümmer, mit Informationen zu Energie, Richtung und anderem.

Antworten auf die Grundfragen der Physik

Das Ergebnis muss zur Theorie passen. Spannend wird es, wenn es das nicht tut. Spannend wird es aber auch, wenn es eine Theorie wie die vom Higgs-Teilchen bestätigt, die seit einem halben Jahrhundert nicht bestätigt werden konnte. Nun haben sie etwas gefunden, von dem einer der Physiker voller Ironie und wissenschaftlicher Vorsicht sagt: „It walks like a duck, it quacks like a duck, it must be a duck!“ (Es läuft wie eine Ente, es quakt wie eine Ente, es muss eine Ente sein!) Mit anderen Worten: das gefundene „Higgs-ähnliche“ Teilchen, die Ente, passt ins Standardmodell. Aber das Bild ist noch unscharf.

Die Physiker brauchen Higgs-Ereignisse zuhauf, um ihre Messstatistik zu verbessern. Deshalb die Umbaupause. Deshalb rüsten sie den LHC auf doppelte Kollisionsenergie und verbesserte Strahlqualität auf. „Wir brauchen eine wesentlich genauere Statistik für die genauere Untersuchung des Higgs“, sagt auch Rolf-Dieter Heuer, der Generaldirektor des Cern. „Für 15 bis 20 Jahre haben wir ein klares Programm am LHC. 2015 wird die höhere Energie ein neues Fenster öffnen. Wann sich darin etwas zeigen wird, ist nicht klar. Ich erwarte nicht schon für 2015 Neues.“

Am meisten beeindruckt die Motivation der Physiker

Drüben am Atlas bauen sie ganz innen, im innersten Ring, noch eine zusätzliche Messschicht ein. Warum, das erklärt Karl Jacobs, Physiker an der Universität Freiburg und einer der 3000 Wissenschaftler aus 176 Instituten in aller Welt, die allein am Atlas-Experiment beteiligt sind und keineswegs den Eindruck erwecken, in dieser Masse würden sie untergehen. Im Gegenteil: die Motivation und die Bereitschaft jedes einzelnen Wissenschaftlers, einen kleinen Teil eines großen Projektes zu seiner eigenen Sache zu machen, ist etwas, das in diesem Cern mehr beeindruckt als alle hochhaushohen Apparaturen.

Ich treffe Jacobs, jetzt ganz ohne Schutzhelm, auf der Terrasse eines der beiden Restaurants im Cern Komplex. Bei klarem Wetter kann man von hier aus den Mont Blanc sehen.

Ein Higgs-Teilchen, erklärt er, kann man nicht beobachten. Es zerfällt viel zu schnell. Man kann nur die Zerfallsprodukte beobachten, kann ihre Bahn zurückverfolgen und aus ihren Eigenschaften Rückschlüsse ziehen. Manche Zerfallsprodukte des Higgs zerfallen sogar selbst gleich wieder, und zwar schon dann, wenn sie noch gar nicht bis zur bisher innersten Kameraschicht geflogen sind. Deshalb die neue innere Messschicht. Die Atlas-Leute wollen damit ihre Kamera noch näher ans Geschehen heranzubringen.

Bisher kennt man erst fünf Prozent des Universums

Das Higgs-Teilchen kann auf mehrere Arten zerfallen. Welche Arten es gibt und wie oft jede vorkommen müsste, haben Theoretiker berechnet. Das muss nun im Experiment bestätigt werden. Erst dann können Karl Jacobs und seine Kollegen sagen, ob sie das Higgs-Teilchen gefunden haben, das Peter Higgs vorhergesagt hat, oder ob es ein anderes ist, das nicht ins Standardmodell der Elementarteilchen passt.

Zum Beispiel, sagt Jacobs, könnte es passieren, dass ein Zerfall beobachtet wird, bei dem die Kollisionsenergie höher ist als die Summe der Energien der wegfliegenden Teilchen. „Wenn transversale Energie fehlt, dann ist das ein Kandidat für die Supersymmetrie.“ Diese Theorie, kurz Susy genannt, erweitert das Standardmodell. Die Theorie löst mehrere Probleme, die die Physiker mit dem Standardmodell haben. Wenn bei einem Higgs-Zerfall Energie fehlen sollte, so Jacobs, dann könnte ein Teilchen namens Neutralino weggeflogen sein. Neutralinos zeigen sich nicht in Detektoren. Neutralinos sagt die Susy-Theorie voraus. Es wäre möglich, dass die Dunkle Materie genau daraus besteht: aus Neutralinos.

Der Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer, selbst Physiker, wartet dringend darauf. „Was ich mir persönlich erhoffe? Es hat fünfzig Jahre gedauert, weniger als fünf Prozent des Universums zu beschreiben. Es wird höchste Zeit, dass wir in die 95 Prozent des dunklen Universums reingehen.“

Der Umbau des Large Hadron Colliders

Zeitplan
Am 14. Februar 2013 hat das Cern begonnen, den LHC abzuschalten. Der Teilchenstrahl wurde gestoppt, dann begannen Versuche mit den supraleitenden Magneten, die man nicht schlagartig abschalten darf. Nach dem 4. März wurde die Kühlung – einige Magnete arbeiten bei 1,4 Grad über dem absoluten Nullpunkt – allmählich zurückgefahren, das Kühlmittel Helium abgelassen und in Tanks gespeichert. Ende Mai war alles abgeschaltet.

Arbeiten
Beim ersten Start des LHC im September 2008 hatte eine Starkstromverbindung zwischen zwei Magneten versagt. Es gab Schäden und eine Verzögerung von mehr als einem Jahr. Das soll nicht wieder vorkommen. 10.170 Stromverbindungen werden geprüft, 1000 bis 1500 davon ausgetauscht, zusätzliche Sicherheit wird eingebaut. 19 der mehr als 10.000 Magneten werden ausgetauscht, sensible elektronische Bauteile werden vor Störeinflüssen in der Strahlumgebung geschützt. Renoviert werden auch mehrere Kleinbeschleuniger des Cern, die als Vorbeschleuniger für den LHC gebraucht werden.

Zukunft
Für 2018 ist eine weitere Wartungspause geplant. Die Detektoren leiden unter der intensiven Dauerbestrahlung. 2022 hoffen die Forscher auf eine weitere Unterbrechung, in der die Strahlqualität weiter verbessert werden soll. Cern-Chef Rolf-Dieter Heuer wird dann nicht mehr Generaldirektor sein. 2014 läuft seine Amtszeit aus. Sein Ziel bis dahin: „Ich möchte dieses Biest gut zum Laufen bringen.“

Fragen
Von den nächsten Jahren erhoffen sich die Forscher genauere Informationen über das gefundene und eventuell weitere Higgs-Teilchen und die Frage, wieso Gegenstände eine Masse haben. Eine weitere große Frage ist die nach der Dunklen Materie und der Dunklen Energie, die 95 Prozent des Universums ausmachen. Und schließlich will man näheres über den Urknall herausfinden. Manche Zustände, die der LHC erzeugen kann, sind auch beim Urknall vorgekommen.

Das Standardmodell der Physik

Teilchenzoo
Das griechische Wort Atom heißt unteilbar. Doch heute wissen wir, dass Atome zusammengesetzt sind – genauso, wie die meisten ihrer Bausteine. Wirklich elementar sind nur wenige Elementarteilchen. Dazu gehört das Elektron, der Träger der elektrischen Ladung.

Standardmodell
Die seit langem anerkannte Theorie kennt zwei Gruppen von Elementarteilchen: sechs Leptonen, zu denen das Elektron gehört, und sechs Quarks. Die Bausteine des Atomkerns, Proton und Neutron, bestehen aus je drei Quarks. Zudem gibt es vier Kräfte, die durch sogenannten Austauschteilchen vermittelt werden. Dies sind: die starke Kernkraft (Austauschteilchen: Gluon), die schwache Kernkraft (W- und Z-Bosonen), die elektromagnetische Kraft (Photon) und die Schwerkraft (Graviton). Das Higgs-Feld, zu dem das Higgs-Teilchen gehört, gibt der Materie ihre Ruhemasse. Zu jedem Teilchen gibt es zudem ein Antiteilchen.

Supersymmetrie
Das Standardmodell beantwortet manche Fragen nicht, etwa die nach der Dunklen Materie. Deswegen haben Theoretiker das Modell so erweitert, dass zu jedem Teilchen ein „Superpartner“ mit fast identischen Eigenschaften gehört. Die meisten dieser sehr schweren Teilchen sind seit dem Urknall zerfallen – bis auf das leichteste, das Neutralino.