Thea Dorn und François Jullien haben im Literaturhaus Stuttgart gezeigt, wie differenziert man mit Reizthemen umgehen kann.

Stuttgart - Begriffe wie „Identität“, „Kultur“ oder „Heimat“ dürfen nicht dem politisch rechten Rand überlassen werden. Darüber waren sich Thea Dorn und François Jullien bei ihrer Diskussion im ausverkauften Literaturhaus am Donnerstagabend einig. Unterschiedlich waren allerdings die Auffassungen darüber, wie genau der Vereinnahmung dieser Begriffe begegnet werden kann.

 

Gemäßigten Konservativen, die sich nach Patriotismus sehnen, mit den „Wir-sind-das-Volk“-Brüllern aber nichts zu tun haben wollen, hat Thea Dorn mit ihrem Buch „deutsch, nicht dumpf“ das nötige Rüstzeug an die Hand gegeben. Sie wirbt für einen Verfassungspatriotismus, der in einer Demokratie nicht nur unbedenklich möglich sei, sondern diese sogar stärken könne. Eine der zentralen Thesen Dorns ist dabei die Feststellung einer kulturellen Identität der Deutschen. Es ist die Schnittmenge der als typisch deutsch geltenden Charakteristika, die bei Dorn den Kernbestand der Kultur bildet. Der aufgeklärte Patriot kann sich davon durchaus entfernen, hat zugleich aber die Sicherheit, in dieser Schnittmenge seine Heimat, seine kulturelle Identität zu finden – eine Art Hafen im Sturm, wie Dorn ihr Konzept bildhaft beschreibt.

François Jullien bestreitet, dass dieser Hafen existiert, was er in seinem Essay „Es gibt keine kulturelle Identität“ schon im Titel unmissverständlich klar macht. Der Philosoph und Sinologe spricht stattdessen von kulturellen Ressourcen, die jedem einzelnen zur Verfügung stehen. Diese zu aktivieren, forme und stärke eine Kultur. In seiner Vorstellung stehen sich Kulturen nicht mehr statisch gegenüberzustehen, sondern bewegen sich in Abständen zueinander.

Keine einfachen Antworten auf komplizierte Fragen

Die von Felix Heidenreich moderierte und teils aus dem Französischen übersetzte Diskussion um die Frage nach einer Existenz der kulturellen Identität führte die Autoren zu den Feinheiten philosophischer Begriffe, zu Ludwig Wittgenstein, zu Umberto Eco und zum Unterschied zwischen kollektiver und individueller Identität. Inhaltlich reichte die Diskussion aber kaum über die in den Büchern dargelegten Konzepte hinaus. Deshalb verliefen die Ausführungen der beiden Autoren auch eher parallel zueinander, als sich gegenseitig zu befeuern, und gerade bei längeren Ausführungen des ebenso brillanten wie redefreudigen Denkers François Jullien fühlten sich die Zuhörer gelegentlich in das Philosophie-Seminar einer Pariser Universität versetzt. Dass Dorn und Jullien am Ende ihrer Debatte wieder an ihren jeweiligen Ausgangspunkten angelangt waren, überraschte deshalb nicht. Zudem war von Anfang an klar, dass sich die Auffassungen der Autoren nicht unversöhnlich gegenüberstehen würden. Vielmehr boten sie zwei Modelle, sich in der politischen Mitte mit Fragen nach Identität auseinanderzusetzen. „Ich bin mit vielem einverstanden, würde es aber anders beschreiben“, brachte Dorn das Ergebnis des Aufeinandertreffens der beiden Autoren auf den Punkt. Einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu geben, war jedoch ohnehin nicht das Ziel des Gesprächs. Es ging um etwas anderes: In „deutsch, nicht dumpf“, schreibt Thea Dorn: „Es wird sich rächen, wenn wir im öffentlichen Diskurs mit jener Schlampigkeit weitermachen, die wir uns derzeit gestatten.“ Dass es auch anders geht, zeigten sie und Jullien im Literaturhaus beispielhaft.