Yasmina Rezas „Kunst“-Haarspaltereien funktionieren im Theater der Altstadt auch nach zwanzig Jahren noch als Bühnenwunder

Stuttgart - Sind da jetzt Farbspuren zu erahnen oder ist das Bild tatsächlich nur weiß mit feinen weißen Streifen? Ist das Kunst oder kann das weg? Eine Debatte, die auch 60 Jahre nach der Erfindung der monochromen Malerei für erbitterten Streit unter an sich guten Freunden führt. Das ist der Ausgangspunkt der Komödie „Kunst“, die seit ihrer Erstaufführung im Jahr 1995 in Paris einen internationalen Triumphzug über die Theaterbühnen angetreten hat.

 

Yasmina Reza hat mit ihrer boshaften, aber nie bösartigen Dekonstruktion einer Männerfreundschaft, die an einer 1,60 mal 1,20 großen Leerfläche (fast) zugrunde geht, einen Bühnenhit gelandet. In Deutschland wurde „Kunst“ vor allem auf den Boulevardbühnen in den letzten zwei Jahrzehnten rauf und runter gespielt. Was Yasmina Reza im Übrigen etwas verwundert hat, wie sie in einem Interview einmal sagte: In anderen Ländern war ihre bittere Komödie Stoff für die Staatstheater.

Große Beobachtungskunst und psychologische Genauigkeit

In Stuttgart hat sich jetzt das Theater der Altstadt dem zum modernen Klassiker avancierten Drama um das weiße Nichts angenommen. Und dabei nichts falsch gemacht: Regisseur Stephan Bruckmeier verlässt sich ganz auf die Qualität des Texts, der wie ein Uhrwerk schnurrt, die Eskalationsspirale dreht sich auf der leeren Bühne unermüdlich, bis sich die Männer an die Gurgel gehen. Was Reza mit großer Beobachtungskunst und psychologischer Genauigkeit zuspitzt in ihrer Studie um drei Männer und ein Bild, ist zum Lachen.

Das Lachen und seine soziale Funktion, das ist der Kern des Stücks: wenn man nur noch übereinander, aber nicht mehr miteinander lachen kann, wird’s unangenehm. Der Humor kommt den drei Protagonisten zunehmend abhanden, sie sprechen sich ihn gegenseitig erst ab, dann verlieren sie ihn völlig. Der Humor wird zu Leerstelle, genauso abwesend wie die Farben auf dem Bild und die Frauen, die nur in der Erzählungen der Männer präsent sind. Je mehr die Zuschauer zu lachen haben, desto stärker vergeht den drei Freunden das Lachen. Die Abwesenheit des Humors wird zum schleichenden Gift.

„Hast Du für diese Scheiße wirklich 80 000 Euro bezahlt?“

„Eine Bühnenbild so schlicht und neutral wie möglich“, steht als Regieanweisung im Text und genauso steht das von Bruckmeier gestaltete Interieur auch da. Ein weißes Bild, das erst nur von hinten zu sehen ist, später umgedreht wird und keinerlei Farbspuren aufweist. Drei Stühle aus Plexiglas und drei Männer in Aufruhr, die sich auf der Bühne vor einem Halbrund aus weißem Stoff wie in einer Arena zum intellektuellen Schlagabtausch bereit machen.

Es geht um viel in diesem Stück, nicht nur um eine Leerstelle auf der Leinwand. „Hast Du für diese Scheiße wirklich 80 000 Euro bezahlt?“ fragt Marc (Dirk Emmert), nachdem ihm sein Freund Serge – geschieden, wohlhabend, Arzt – voll Stolz die leere Leinwand vorführt. Diese „Scheiße“, das geht dem von Reinhold Weiser überzeugend abgeklärt gespielten Serge entschieden zu weit. Er holt aus und erzählt nur dem Publikum, dass sein Freund Marc nicht nur ignorant in Sachen moderner Kunst sei, sondern sich auch noch etwas darauf einbilde.

Das Timing stimmt in dieser Inszenierung

Genau das war auch ein Vorwurf, den man Yasmina Reza oft gemacht hat: Dass ihr Stück sich auf eine billige pointenheischende Tour über moderne Kunst lustig macht. Der Vorwurf greift nicht. Es geht in diesem Parcours der Blicke (herrlich, wie süffisant Dirk Emmert seine linke Augenbraue hochziehen kann!), die mal fassungslos, mal abfällig die Reden des anderen kommentieren, auch um Machtstreben, um Feigheit, um Eitelkeit – um alles, was eben zusammenkommt, wenn drei Männer zu lange aufeinander hocken.

Das Timing stimmt in dieser Inszenierung, kein Stillstand, nirgends. Manchmal fallen sich die drei auch ein bisschen zu voreilig ins Wort, die kleinen Holperer werden aber professionell überspielt.

Es sind keine Prototypen der Pariser Bourgoisie, die Reza aufspießt. Dass dieser Dialogpingpong unter dem kunstsammelnden Arzt, der kurz vor der Heirat stehenden Ex-Szenegröße Yvan (Christian Sunkel), der es immer allen recht machen will, und dem gnadenlosen Chefdenker Marc so brillant funktioniert, ist der psychologischen Genauigkeit geschuldet, mit der Reza Figuren zeichnet. Vor allem aber ist dieses Stück ein Elfmeter für die Darsteller, wenn sie ihre Chance nutzen.

„Kunst, die nicht rockt, ist für den Arsch“

Im Theater Altstadt tun sie das, jede Chance wird zum Treffer. Christian Sunkel badet wunderbar ausgiebig in seinem Selbstmitleid, ob er sich dabei auf dem Boden wälzt und die blutende Nase hält oder bekümmert von den Frauen erzählt, die ihm das Leben schwer machen. Weisser und Emmert stehen sich in ihrer Kaltschnäuzigkeit in nichts nach und sind aber genauso glaubhaft in tiefster Seele getroffen, wenn man nur ihre Achillesferse erwischt. Und wer könnte das besser als der beste Freund?

In der Staatsgalerie hängt seit einiger Zeit das teilgeschredderte Bansky-Bild „Love is in the bin“ und hat die Debatten darum, was Kunst ist und was nicht und was das alles wert sein soll, neu entfacht. Stephan Bruckmeier hat sich darum überhaupt nicht gekümmert. Das könnte man ihm zum Vorwurf machen, man könnte es aber als Verbeugung verstehen: Vor einem Text, der so gut funktioniert, dass er weder Aktualisierungsgesten noch viel Bühnenzauber braucht. Drei Schauspieler, die mit Vollgas spielen, reichen. Oder, um es mit Serge zu sagen: „Kunst, die nicht rockt, ist für den Arsch.“ Rezas Sprechkunst rockt. Und wie.

„Kunst“ im Theater der Altstadt: nächste Termine vom 19. bis zum 23. und vom 26. bis zum 30. Juni