Ob Mauern tatsächlich Sicherheit und Wohlstand gewährleisten, thematisiert Lokstoff. Und das nicht irgendwo, sondern im Gerber, auf dessen Dach sich so eine abgeschottete Wohneinheit befindet. Im neuen Stück „Ausnahmezustand“ schickt Lokstoff die Zuschauer auf eine Seelenreise.

Stuttgart - Kein Mensch will so etwas. Nicht in aller Öffentlichkeit. Jeder schämt sich, wenn dieses blonde Gift mitten im Einkaufscenter seinen Mann als Versager outet. Viele wenden sich ab, andere schauen betreten zu Boden, manche flüchten.

 

„Es macht mir nichts aus, dass du nur alle zwei Wochen Sex willst“, schreit Schauspielerin Kathrin Hildebrand ihren Mann an und gibt eine Kostprobe ihrer Wut, ihres Hasses und ihrer Angst. Ort der Szene ist das Gerber während der Proben des Stückes „Haymatlos – im Ausnahmezustand“ von Falk Richter. Und am Ende der Szene setzt sie geifernd den Todesstoß: „Nein, ich denke nicht, dass du deshalb ein Versager bist.“

Bingo. Volltreffer. Viele fühlen mit dem Mann – oder sich sogar angesprochen. Nicht weniger will Lokstoff, das Theater im öffentlichen Raum. Genau darum geht es auch in der neuen Produktion, die an diesem Freitag, 11. November, im Gerber Premiere feiert. Es geht um die diffusen Ängste in uns allen, die Furcht um unseren Wohlstand und unsere Sicherheit. Und die kann dieser Schlappschwanz im Stück nicht mehr gewährleisten. Weder finanziell noch sexuell. Damit droht alles zu zerbrechen – an erster Stelle die Illusion von diesen Werten.

Geschlossene Gesellschaft überm Gerber

Denn die Wohnanlage, im Stück Celebration Community genannt, scheint all das zu bieten. Zumindest verspricht es die Werbung: „Pearly Gates Corporation, Weltmarktführer für maximal versicherheitlichte Wohnanlagen, bietet Ihnen Immobilien der Extraklasse; Pearly Gates bietet Ihnen eine neue Heimat. Ein wahres Heim als Hort des Friedens und der Versöhnung. Bei Pearly Gates können auch Sie Obhut finden vor aller Sorge, allem Bangem. Denn unsere Pforten bleiben fest verschlossen!“

Es ist ein Trugbild, mit dem auch Pegidisten und Politiker des rechten Randes auf Rattenfang gehen. Ausgesprochen klingt der Lockruf so: „Freiheit ist Sicherheit. Und Sicherheit ist Freiheit.“

Es ist daher kein Zufall, dass die Produktion im Gerber spielt. Über dem Einkaufscenter ist die Celebration Community Realität. „Da kommst du nur mit Karte hoch“, sagt Kathrin Hildebrand, „da ist niemand, den die Community nicht haben will. Das ist eine geschlossene Gesellschaft.“

Im echten Leben kann man sich die Mitgliedschaft in dieser elitären Wohnanlage mit dem nötigen Kleingeld sichern. Im Stück von Lokstoff reicht das nicht. Man muss sich bewerben und bewähren – als ausgewählter Aspirant. Wie sich das anfühlt, können die Zuschauer hautnah miterleben. Nicht nur das: Sie erleben auch die Brüchigkeit dieser Glücksformel, die Sicherheit verheißt, aber tatsächlich Unfreiheit bringt.

Wer Mauern baut, hört auf zu leben

Klar wird einem das spätestens in dem Moment, als diese Wahrheit auch dem Protagonisten des Stückes bewusst wird. Zuschauer spüren, dass durch die Angst vor dem Verlust der Heimat und der Sicherheit beides längst verloren gegangen ist. Lokstoff vermittelt dies, indem die Theatermacher das utopische Märchen „Der selbstsüchtige Riese“ von Oskar Wilde in die Rahmenhandlung einflechten.

Die historische Quintessenz lautet: Wer Mauern baut, hört auf zu leben.

„Unser Ziel ist es, dass der Zuschauer am Ende des Stückes sich selbst die Frage stellt, ob er diese Sicherheit braucht, um frei zu sein“, sagt Hildebrand. Mehr noch: Auch die Frage nach dem Heimatbegriff wird gestellt. Genau deshalb sei das Gerber ein idealer Spielort. Es biete vielen Menschen einen Hort trügerischer Sicherheit. „Der Grund ist, dass diese Einkaufscenter auf der ganzen Welt alle gleich sind“, sagt Kathrin Hildebrand, „egal, ob Tokio, Warschau oder Stuttgart: überall die gleiche Anmutung, überall die gleichen Marken.“

Die Uniformität in diesem Niemandsland gibt Menschen Sicherheit.

„In diesen Ankerpunkten kennen sich Menschen sofort aus und fühlen sich heimisch. Die Malls verkörpern beispielhaft das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem Raum und privatem Raum“, sagt Kathrin Hildebrand.

In diesem Niemandsland ist es daher auch normal, laut die Lust oder Unlust des Mannes zu brandmarken. In diesem Niemandsland wird einem womöglich deutlich, wo Heimat zu suchen und zu finden ist.

So wird Lokstoff auch dem Autor des Stückes gerecht. Falk Richter thematisiert stets die Suche nach Identität und die Sprachlosigkeit zwischen Menschen, die schließlich zu Isolation und Vereinsamung führt. Die Figuren in seinen Stücken, exemplarisch das blonde Gift alias Kathrin Hildebrand, stellen den Theaterbesucher damit vor eine Aufgabe. Es geht darum, seine Identität und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft einem Stresstest zu unterwerfen. Und eventuell neu zu definieren. Das Lokstoff-Ensemble nimmt einen in diesem Wechselbad der Emotionen geschickt mit. Entlang einer imaginären Linie, an deren Rändern ein Abgrund oder die Erlösung lauert: auf der einen Seite die Verlustangst, auf der anderen eine tiefe Sehnsucht, bei der es immer nur um die drei urmenschlichen Dinge geht: Zugehörigkeit, Nähe und Liebe.

Vor allem um die Liebe.