Das Ensemble Lokstoff macht aus der Not eine Tugend und streamt Live-Theater aus der Badewanne auf YouTube.

Stuttgart - Was für eine verrückte Zeit! Das denken in diesen Tagen viele Menschen. Auch Kathrin Hildebrand, die künstlerische Leiterin des Ensembles Lokstoff, ertappt sich immer wieder bei diesem Gedanken. Unabhängig von den wirtschaftlichen Einbußen, die fast jeder aus Solidarität für die Gemeinschaft in der Coronakrise trägt, gehe aus ihrer Sicht soviel mehr verloren.

 

Und obwohl das Digitale gerade einen Siegeszug feiert, kann es bei aller Kreativität der Künstler, Yogalehrer oder anderer Dienstleister das Analoge nicht wettmachen. Es fehlt die analoge Zwischenmenschlichkeit. Umarmung. Berührung. Und sei es nur ein Handschlag. „In diesen Zeiten dürfen wir unseren Körper nicht vergessen, denn wir brauchen Bewegung und Berührung“, mahnt auch Frau Blum, die unter gleichnamigem Pseudonym im Westen ein Fachgeschäft für „Lust und Triebe“ führt, in einem Newsletter. Gerade jetzt, wo uns der Kopf rauche und wir fieberhaft nach Überlebensstrategien suchten, sei für uns alle der körperliche Ausgleich so wichtig.

Neue Überlebensstrategien

Unsere Welt war vorher schon arm daran, wusste der Stuttgarter Tango-Lehrer Juan Camerlingo schon immer. Der Argentinier erklärte so auch den Erfolg des argentinischen Tango in Europa und Deutschland. Bei diesem Gesellschaftstanz durfte man sich nah kommen – sogar ganz nah. Nun also ist die (soziale) Distanz das Motto dieser Tage und Wochen. Für das Theater Lokstoff, das Stuttgarter Theater im öffentlichen Raum, kehrt sich damit die eigentliche Intention ins Gegenteil. Nun heißt es: Nicht in der Stadtbahn, nicht im Gerber, nicht im Kunstmuseum und nicht im Wohnzimmer zu spielen. Nun heißt es Heimkino statt öffentliche Bühne. Ein Tiefschlag.

Aber wie so viele andere hat sich auch das Ensemble Lokstoff etwas einfallen lassen. „Da wir ja gerade nicht spielen können, haben wir uns online auf unserem Youtube Kanal einige Aktionen ausgedacht“, berichtet die künstlerische Leiterin Kathrin Hildebrand. Sie schalten immer dann einen Livestream, wenn sie eigentlich eine Vorstellung gehabt hätten. In der vergangenen Woche hätten Lokstoff Retrotopia im Heslacher Bad gespielt, statt dessen haben sie eine Szene live gestreamt, wie Willy Schneck in der Badewanne in Stuttgart einen Dialog mit seinem Kollegen Natanel spielte, der in seiner Frankfurter Wanne planschte. „Und jeden Tag erzählt einer von uns eine Kindergeschichte“, sagt Hildebrand und ergänzt augenzwinkernd: „Natürlich können auch die Eltern zusehen.“

Aus der Not eine Tugend gemacht

Lokstoff macht aus der Not eine Tugend. Wohlwissend, dass sie sich auf eine Kunst verstehen, die mit ihrer geistigen Berührung das Herz trifft. Auch wenn die persönliche Präsenz fehlt. „Das eigentlich Schöne am Theater ist ja, dass man bei jeder Vorstellung die Stimmung des Ortes fühlt, die unterschiedlichen Menschen wahrnimmt, und man direkt spürt, wie Kunst berühren kann. Jede Vorstellung ist anders, das ist herrlich und fühlt sich an wie wenn es schon lange her wäre und schon die Erinnerung daran macht mich sehnsuchtsvoll. Dies fällt nun alles weg“, sagt Kathrin Hildebrand mit einem tiefen Seufzer und versucht das Positive in den Vordergrund zu heben: „Aber wir versuchen trotzdem kreativ zu bleiben und auf andere Weise mit unseren Zuschauern in Kontakt zu treten.“

Unabhängig von der künstlerischen Dimension erlebt sie auch privat die ganze Wucht dieser Coronakrise: „Es ist gerade nicht einfach. Wenn ich meine 92-jährige Mutter besuche, macht sie normalerweise die Tür auf und wir umarmen uns. Jetzt gibt es keine Umarmung, zwei Meter Sicherheitsabstand und Gesichtsmaske. Das ist schwer." Andererseits sieht sie auch, „wie unsere Zuschauer ihre Eintrittskarten spenden oder wie die Solidarität im Stadtviertel und gegenseitige Hilfe in der Gesellschaft wachsen“.

Und schon wieder ertappt sie sich bei diesem Gedanken: „Verrückte Zeit.“