Für seine neueste Produktion hat sich das Theater Lokstoff einen ungewöhnlichen Aufführungsort gewählt: „Retrotopia“ wird während des laufenden Schwimmbetriebs im Heslacher Hallenbad in Stuttgart-Süd gezeigt.

Stuttgart - Und jetzt bitte die Klamotten ausziehen! Mit freundlichem Nicken drücken die Mitglieder des Theaterkollektivs Lokstoff den Zuschauern Bademantel und Badelatschen in die Hand und weisen ihnen den Weg zur Umkleide. Kurz tauscht man im Heslacher Hallenbad noch verwirrte Blicke aus, dann ist klar: Abendgarderobe ist heute nicht. Denn die Stückentwicklung „Retrotopia – Deutschland im Reagenzbecken“ unter der Regie von Heidi Mottl nimmt nicht nur ihren Darstellern sämtliche Masken ab.

 

Im Hallenbad angekommen verwandelt das Stück die Location in eine metaphorische kalte Dusche, die sämtliche Statussymbole wegwäscht und seine Figuren brachial auf ihre Ängste reduziert: Mitten in der Schwimmhalle, während des laufenden Badebetriebs, stehen sie gleichsam nackt und mit sich selbst konfrontiert da. Die Frau, die sich nicht lieben kann und abseits des beruflichen Daueradrenalins kaum mehr ein Hochgefühl verspürt. Die sensible Vollblutmutter, die sich vor dem Fallenlassen fürchtet, seit ihr Vater sie als Mädchen zwang, einen Kopfsprung zu machen. Oder der sich selbst optimierende Sportler, der Angst vor dem Moment hat, in dem er sich seine leeren Motivationsfloskeln selbst glaubt.

Der allwissende Bademeister

Ihre Geschichten erzählt die aus Berlin kommende Mottl – sinnbildlich für die von Ängsten durchzogene Gesellschaft – als kurze, ausschnitthafte Situationscollagen am Beckenrand. Strukturiert werden sie von einem allwissenden Bademeister, der nicht nur Handlung und Tempo der Narration bestimmt, sondern auch die Metaebene mitliefert: Denn das Wasser, erklärt er mit Blick auf die ihre Bahnen ziehenden Schwimmer, sei eine Art domestizierter Gleichmacher. Eine Erinnerung an den schützenden Uterus, begehbar gemacht durch Chemikalien und Steinbecken. So treffen im Hallenbad schließlich Selbstausbeuter und Schutzbedürftige aufeinander und werden dort zu fehl- und nahbaren Individuen, die ängstlich nach jenem Freiheitsgefühl suchen, das sie seit der Geburt nicht mehr hatten.

Obwohl das Wasser zum Verbindungspunkt zwischen den Geschichten wird, in denen etwa die verzweifelte Mutter ihre Angst durch ein abstruses Schwimmritual überwindet, schafft die Inszenierung es leider nur selten, das Potenzial ihres ungewöhnlichen Spielorts voll auszuschöpfen. Dabei wären die Voraussetzungen günstig: Das Bad mit seinen in graue Frotteemäntel gehüllten Einheitszuschauern bietet schließlich schon an sich ein skurriles Bild. Und auch das Stück, das vor allem über visuelle Eindrücke funktioniert, findet teils atemberaubend surreale Bilder, um die Entfremdung von der Leichtigkeit des Schwimmens deutlich zu machen. Doch leider verschießt das Theaterkollektiv sein Pulver fast ausschließlich in der letzten Viertelstunde. Bis dahin tänzeln die Darsteller halb entschlossen ums Becken herum, ziehen einige Bahnen im Wasser und setzen sich mit zielloser Gleichgültigkeit auf den Fünf-Meter-Turm. Viele Möglichkeiten zum Eintauchen bleiben einem da als Zuschauer kaum.

Aufführungen am 24. und 26. Januar sowie am 21. und 23. März.