Die Stadt Ravensburg hat einen fast vergessenen Schatz historischer Bühnenbilder aus dem Schlaf geholt. Erschaffen hat ihn der Stuttgarter Hoftheatermaler Wilhelm Plappert.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ravensburg - Man habe von diesem Schatz ja nichts geahnt, sagt Franz Schwarzbauer, der Kulturamtsleiter der Stadt Ravensburg. Die langen Rollen aus Leinwand staubten im Maschinen- und Kulissenhaus des alten Stadttheaters über die Jahrzehnte immer weiter ein. Manchmal kamen die Macher der Milka-Faschingsgesellschaft herauf, zogen eine der bemalten, bis zu 60 Quadratmeter großen Leinwände heraus, drehten sie um und ließen eine Kulisse für den jährlichen Milka-Ball draufpinseln. Vielleicht wurden sogar gerade deshalb die Sachen nicht weggeschmissen. Eines Tages, erinnert sich Schwarzbauer, sei feuerpolizeilich eingeschritten worden. „Da hat der Brandschutz den Einsatz der Kulissen im Stadttheater nicht mehr erlaubt.“

 

Und dann, 2011, haben sie doch genauer hingeguckt in Ravensburg. Und sind vermutlich über die Faschingsmalereien ziemlich erschrocken. Die endlich geborgenen 125 Hängekulissen und gut 200 Stellkulissen sind nämlich mehr als hundert Jahre alt und stammen von dem Stuttgarter Hoftheatermaler Wilhelm Plappert, Meister der Lichtführung, Beherrscher des Perspektivischen. Von 1883 bis 1913 war Plappert Leitender Bühnenbildner am Hof von Wilhelm II. Als das Stuttgarter Hoftheater, das im ehemaligen Lusthaus am Schlossplatz untergebracht war, in der Nacht zum 20. Januar 1902 niederbrannte, zogen Plappert und die Ensemblemitglieder auf königliches Geheiß ins Konzerthaus Ravensburg um. Es war neu und modern, und Wilhelm II. sowie seine Gemahlin Charlotte hatten es nicht weit von ihrem Sommersitz auf Schloss Friedrichshafen.

In Stuttgart war man mit Kulissen wenig zimperlich

Was Plappert konnte, zeigt sich heute ausschließlich im Ravensburger Nachlass, denn in Stuttgart war man weniger zimperlich mit Kulissen von „abgespielten“ Stücken oder solchen, die verschlissen waren. Da wurde kräftig weggeworfen. Der geschichtsbewusste Ravensburger Gemeinderat aber entschied sich anders. Das aus Owingen stammende Restauratorenehepaar Karin und Raymond Bunz wurde beauftragt, die Hängekulissen zu konservieren und so weit als möglich aufzuarbeiten. Die Gesamtkosten von rund einer Million Euro teilen sich die Stadt, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Landesdenkmalpflege Baden-Württemberg.

Einen Sponsor bauchte es trotzdem noch. Er fand sich im Stadtteil Weißenau, wo der Logistikunternehmer Heinrich Grieshaber seine Zentrale hat. Grieshaber ist in Wirtschaftskreisen auch als früherer Vizepräsident des Industrie- und Handelskammertages Baden-Württemberg bekannt; ihn hat das Ehepaar Bunz überzeugen können, eine seiner Hallen für die mehrmonatigen Restaurierungsarbeiten kostenlos zur Verfügung zu stellen. Es braucht Platz für diese Arbeit, die Leinwände besitzen teilweise das Format halber Hauswände. In der Halle steht ein Folienzelt, darin ist eine Absaugvorrichtung montiert. Die Malschicht, erklärt Karin Bunz, wird mit einem Latexgranulat gereinigt, das im Saugstrahlverfahren aufgeblasen wird. Gearbeitet wird im Overall und mit Mundschutz. Die Mikroschwämmchen nehmen Schmutzpartikel von der Oberfläche der Leinwände auf; die Granulatpartikel werden anschließend mit fein dosierter Druckluft entfernt und abgesaugt.

Overall und Mundschutz sind Pflicht bei den Arbeiten

Die Malschichten haben gelitten in den letzten hundert Jahren, vor allem Feuchtigkeit hat ihnen zugesetzt. Plappert hatte überwiegend mit Leimfarben gemalt. Etwa 80 Prozent des Bestandes habe im Kulissenhaus Wasserflecken bekommen, sagen die Restauratoren. Außerdem gibt es Knickfalten, die unter Wärmeeinwirkung geglättet, Risse, die mit Seidengaze genäht, Farbversprödungen, die mit einer Algenleim-Lösung behandelt werden müssen. Nur: Die Pinsel herausholen und Plapperts Motive nachmalen, das wagt niemand.

Viele Motive waren so angelegt, dass sie augetauscht werden konnten

Die Farben, das zeigt sich jeden Tag, kommen wieder, beginnen zu strahlen, Bühnenbilder wie der Canale Grande, ein Renaissance-Saal, ein Waldbogen oder eine fiktive Stadt mit Kirche und Markt zeigen wieder Plapperts ganze Kunst. Viele Motive waren so geplant, dass sie austauschbar waren, andere wurden nur für bestimmte Aufführungen erschaffen. Was der württembergische König und sein Hof zwischen 1903 und 1910 in Ravensburg so anschauten, das immerhin ist gut dokumentiert: 42 Gastaufführungen von Opern, Operetten und Schauspielen hat Dieter Büchner vom Landesamt für Denkmalpflege ermittelt, darunter „Wilhelm Tell“, die „Hochzeit des Figaro“, der „Troubadour“, die „Lustige Witwe“, der „Freischütz“ oder der „Wallenstein“. Manche Kulissen tragen Beschriftungen auf der Rückseite, die keinen Zweifel an der Stückezugehörigkeit lassen. Von anderen lässt sich nur vermuten, wo sie eingesetzt wurden. Das könne durchaus noch ein Feld für die Kulturforschung werden, sagt Kulturamtschef Schwarzbauer.

Überhaupt dient die Restaurierung der Zukunft. Die Restauratoren rollen und verpacken die aufgearbeiteten Leinwände in einem Verfahren, das den Stücken mindestens weitere sichere hundert Jahre garantieren soll. Vorher aber fotografieren sie alles. Im Digitaldruckverfahren können die Leinwände so in Originalgröße reproduziert werden. Damit ist es denkbar, dass auch künftig Stücke vor Plapperts Kulissen aufgeführt werden. Die Stadt kann sich außerdem vorstellen, einzelne Originale in Museen und Ausstellungsräumen zu zeigen. Bloß hoch genug müssen sie sein.