Thomas Hitzlsperger ist kein Mann der Illusionen – er weiß, was jetzt auf ihn zukommt: kritische Beobachtung durch Öffentlichkeit und Medien, gnadenloser Erfolgsdruck. Doch noch wirkt der neue VfB-Sportchef gelassen.

Sport: Dirk Preiß (dip)

Stuttgart - Es ist noch nicht lange her, da saß Thomas Hitzlsperger im Nachwuchsleistungszentrum des VfB Stuttgart – nicht oben in seinem Büro, sondern im Untergeschoss: Besprechungsraum, langer Tisch, viele Stühle, zwei Gesprächspartner. Das Gespräch neigte sich dem Ende entgegen, „vielleicht“, sagte der frühere Profifußballer noch, „geben wir uns noch ein, zwei Jahre“.

 

Am Dienstag nun saß Thomas Hitzlsperger wieder im Untergeschoss. Doch diesmal ein paar Meter weiter – Medienraum, vier Tischreihen, viele Stühle, unzählige Gesprächspartner. Und die Zukunft spielte plötzlich nur noch eine untergeordnete Rolle in der Gedankenwelt des ehemaligen Nationalspielers. „Ich will für den Trainer da sein“, sagt er nun – und es geht nicht um einen in der Ferne liegenden Zeitraum. Es geht um das Hier und Jetzt. Es geht um den Verbleib in der Fußball-Bundesliga. Es geht um die Zukunft des VfB Stuttgart. Denn: Thomas Hitzlsperger ist jetzt der Sportvorstand des Clubs. Er sagt: „Ich weiß, was ich tue.“

Der Mann war noch nie ein Träumer

Das ist gut zu wissen, denn der Bürostuhl, auf dem er nun Platz nimmt, dreht sich mitunter schnell – und hat in jüngerer Vergangenheit den einen oder anderen abgeworfen. Michael Reschke ist der Mann, den Hitzlsperger nun beerbt, davor war Jan Schindelmeiser der Mann der Stunde, beide bleiben nicht viel länger als ein Jahr. Robin Dutt, Fredi Bobic – auch sie keine Sportchefs, die Jahrzehnte unter dem roten Dach wirkten. Man könnte Hitzlsperger also einen Schuss Naivität unterstellen, wenn er sagt: „Mein sehnlichster Wunsch ist es, hier sehr lange zu sein.“ Doch der Mann ist kein Träumer. War er noch nie.

Natürlich, er hatte den Traum, Fußballprofi zu werden. Aber er wusste früh: Vom Wünschen allein ist noch selten etwas in Erfüllung gegangen. Also verließ er als Teenager den FC Bayern und ging nach England. Birmingham, Aston Villa, dort hatte er die Perspektive, es schnell in ein Profiteam zu schaffen. Alles Weitere ist bekannt.

In England wurde er zu „Hitz, the Hammer“, in Deutschland Meister mit dem VfB (2007 mit einem Tor im entscheidenden Spiel gegen Energie Cottbus), WM-Dritter 2006, Vizeeuropameister 2008. Es schlossen sich kurze Episoden bei Lazio Rom und beim VfL Wolfsburg an, er beendete seine Karriere relativ früh. Kurz danach, vor fünf Jahren, bekannte sich Thomas Hitzlsperger öffentlich zu seiner Homosexualität. Er ist seit je sozial engagiert, arbeitete dann als TV-Experte und stieg wieder beim VfB ein. Erst als Berater des Vorstandes, dann als ehrenamtliches Präsidiumsmitglied und Leiter der Nachwuchsabteilung. „Ich habe gelernt“, sagt der 36-Jährige über die vergangenen zwei Jahre im Stuttgarter Talentschuppen, „hart zu arbeiten.“ Und: „Ich weiß, was es heißt, ein Team zu führen.“ Rund hundert Mitarbeiter agierten unter ihm, für rund 170 Kinder und Jugendliche war er zudem verantwortlich. Er war übrigens auch mal Kapitän beim VfB.

Hohe Sozialkompetenz – klare Ansagen

Vor allem diese vergangenen zwei Jahre führt Wolfgang Dietrich an, wenn er die Eignung Hitzlspergers für den neuen Job bewertet, seine „Führungsqualitäten“. Dazu komme seine „Nähe zum aktiven Profifußball“. Man verspricht sich einen engen Draht vom neuen Sportchef zu Trainer und Mannschaft. Hitzlsperger sagt: „Ich habe schon mit dem Trainer geredet.“

Geredet hat er auch im Nachwuchsleistungszentrum des VfB Stuttgart viel. Auch dort galt es, ein nicht mehr auf Hochleistung getrimmtes Gebilde wieder nach vorne zu bringen. Thomas Hitzlsperger ging die Aufgabe kommunikativ an, mit hoher Sozialkompetenz, aber auch klaren Ansagen. Der gebürtige Münchner besetzte Trainerstellen neu, stufte Juniorencoaches dabei auch herab, kümmerte sich aber auch um fast schon aussortierte Talente und begeisterte deren Angehörige bei Elternabenden. Hitzlsperger, so heißt es, nimmt die Leute mit – und der Erfolg gibt ihm recht: Die A-Junioren stehen auf Platz eins, die B-Junioren immerhin auf dem vierten Rang der jeweiligen Bundesliga-Tabelle. Schöne Erfolge – die jetzt in den Hintergrund rücken.

Der letzte Sympathieträger

„Ich kenne das Profigeschäft“, sagt das jüngste von sieben Kindern einer Familie mit eigenem landwirtschaftlichem Betrieb, das früh lernen musste, sich durchzusetzen. Er kennt das kurzfristige Denken, und er kennt die Tabelle der Fußball-Bundesliga. Der VfB steht auf Rang 16, hat lediglich 15 Punkte und legte zuletzt einen desolaten Auftritt in Düsseldorf hin – dennoch zeigt Thomas Hitzlsperger Optimismus. „Sonst“, sagt er, „wäre ich fehl am Platz.“ Diesen Optimismus will er nun übertragen, andere mit „meiner Energie anstecken“, vor allem auch die Spieler, zu denen Michael Reschke wohl keinen Zugang mehr fand. Wenn ihm das gelingt, kann es noch was werden mit dem Klassenverbleib, dann kann er die Zukunft des VfB auf einer ganz anderen Basis beginnen. Seit Vertrag läuft bis 30. Juni 2022.

Das ist ein großer Vertrauensvorschuss für einen, der trotz allem ein Lehrling ist auf seinem neuen Posten, der aber der Einzige der aktuellen Führungsmannschaft des VfB ist, der mit nach wie vor hohen Sympathiewerten aufwarten kann. Nun ist er endgültig das Gesicht des Clubs – und somit auch eine kluge Wahl des selbst in Bedrängnis geratenen Wolfgang Dietrich. Wobei Hitzlsperger auch gut beraten wäre, sich abzugrenzen vom Vereinspräsidenten und AG-Aufsichtsratschef. Der nach dem krachend gescheiterten Modell Reschke nun ein neues im Kopf hat: ein Kaderplanerteam mit Thomas Hitzlsperger an der Spitze.

Die Beobachtung wird gnadenlos sein

Auch der neue Sportchef fordert so schnell wie möglich Unterstützung ein. „Ich brauche ein Team“, sagt er, „ich will mich mit sehr guten Leuten umgeben, die streitbar sind.“ Die auch ihn hinterfragen, die ihn aber auch unterstützen. Arbeit wird er selbst so oder so genug haben in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren. Auf „weniger Schlaf“ hat er sich schon eingestellt – und damit kein Problem. „Wenn ich nur den Anspruch hätte, eine ruhige Kugel zu schieben“, sagt er, „dann würde ich es mir leicht machen.“ Zu leicht in seinen Augen – Augen, die so wach erscheinen, dass er wohl recht genau erahnt, was nun auch auf ihn zukommen wird.

Zum Beispiel die öffentliche Beurteilung seiner Arbeit. Nicht nach der Saison, nicht nach ein, zwei Jahren – sondern Woche für Woche. Das kann Menschen, die ihre Arbeit bis dahin im Verborgenen geleistet haben, verstören. Nicht wenige sind daran gescheitert, vor allem Quereinsteiger aus anderen Branchen. Thomas Hitzlsperger dagegen sieht sich auch darauf vorbereitet – nicht zuletzt wegen seiner Erfahrung, die er zuletzt im Journalismus gesammelt hat.

„Seit ich angefangen habe, professionell Fußball zu spielen, werde ich bewertet“, sagt er – und weiß, dass er nun „noch mehr in der Schusslinie“ stehen wird. Angst macht ihm das keine. Angst darf er auch keine haben, in diesem Haifischbecken, in das er sich nun begibt – ganz ohne schützenden Käfig. Stattdessen will er kurzfristige Impulse setzen, den Trainer unterstützen, ihm aber nicht hineinreden – und zugleich langfristig etwas entwickeln beim VfB, der längst sein Club ist. Seit Dienstag mehr denn je.

„Vielleicht geben wir uns noch ein, zwei Jahre“, sagte Thomas Hitzlsperger kürzlich. Es ging damals gar nicht um ihn, sondern um die Frage, wann der VfB Stuttgart wieder einen deutschen Nationalspieler aus dem eigenen Nachwuchs stellt. Im Nachwuchsleistungszentrum hat der 36-Jährige die Basis gelegt. Was danach kommt? Liegt nun auch in seinen Händen.