Vor Weihnachten war ein 28 Jahre alter Mann mit einem Golf auf der Fellbacher Straße in Richtung Kernen gerast. Auf Höhe des Ortseingangs von Rommelshausen prallte er mit hoher Geschwindigkeit auf einen in einer Parkbucht am Straßenrand stehenden Lastwagen. Der junge Fahrer überlebte den Aufprall nicht.

Rems-Murr: Sascha Schmierer (sas)

Kernen - Wer sein Leben für andere aufs Spiel setzt, darf nicht allzu zart besaitet sein. Doch es gibt Bilder, die auch gestandene Feuerwehrleute fürchten. Ein über Wochen unentdeckt in einer Wohnung liegender Leichnam. Ein nach einem Verkehrsunfall auf der Rücksitzbank sterbendes Kind. Ein Treppenhaus, aus dem es für ein Brandopfer kein Entrinnen mehr gab. Das sind Bilder im Kopf, die einen lange nicht mehr verlassen. Bilder, an die man beim Einschlafen denkt und mitten in der Nacht, beim Singen unterm Weihnachtsbaum und beim Anstoßen aufs neue Jahr. „Bei der Feuerwehr gibt es nicht nur schöne Momente“, weiß Andreas Wersch, Kommandant in Kernen.

 

Seit Mitte Dezember haben viele seiner Leute so ein Bild im Kopf. Grauen, das sich ins Gehirn eingebrannt hat. In einer stillen Montagnacht zwei Wochen vor Weihnachten war ein 28 Jahre alter Mann mit einem Golf in atemberaubendem Tempo auf der Fellbacher Straße in Richtung Kernen gerast.

Auf 26 000 Euro bezifferte ein Sprecher der Polizeidirektion in Aalen den Schaden

Auf Höhe des Ortseingangs von Rommelshausen prallte er mit hoher Geschwindigkeit auf einen in einer Parkbucht am Straßenrand stehenden Lastwagen. Die Ortsdurchfahrt war übersät mit Splittern der Frontverkleidung, Teile der Stoßstange flogen bis ins angrenzende Feld. Der junge Fahrer überlebte den Aufprall nicht. Er war nicht mal angeschnallt. Auch deshalb wurde nach dem schrecklichen Unfall schnell spekuliert, dass der 28-Jährige möglicherweise bewusst aus dem Leben scheiden wollte. Die Strecke von Fellbach in den Nachbarort ist schließlich übersichtlich. Wer da schwer verunglücken will, muss schon einen LKW als Prellbock nehmen. Auf 26 000 Euro bezifferte ein Sprecher der Polizeidirektion in Aalen den Schaden. Die Feuerwehr, mit acht Fahrzeugen und 32 Einsatzkräften ausgerückt, durfte die Straße putzen und den Kanal spülen, weil Kraftstoff aus dem gerammten Lastwagen gelaufen war. Abgehakt werden kann der Unfall am Ortsschild freilich noch nicht. Denn neben den dürren Fakten aus dem Polizeibericht muss noch eine leider wahre Geschichte erzählt werden. Sie berichtet von einer Feuerwehr, die zwar zum Einsatzort eilt, aber über Stunden gar nicht helfen darf. Und sie wirft ein Schlaglicht auf eine aberwitzige Auswirkung einer vielfach kritisierten Polizeireform.

An Rettung war nicht zu denken

Bisher nämlich ist allenfalls in Feuerwehrkreisen bekannt, dass die Helfer in jener Dezembernacht mehrere Stunden ausharren mussten, bis sie den Leichnam endlich aus dem Fahrzeug schneiden durften. Um 23.15 Uhr war der 28-Jährige verunglückt, erst gegen vier Uhr in der Früh hatte die Polizei die Unfallaufnahme beendet. Das lag nicht etwa an den Kollegen aus dem Fellbacher Revier, die Streife war prompt am Unfallort. Doch die örtlichen Beamten waren bei dem tödlichen Crash nur Zaungäste, eingreifen durften sie nicht. Sie sahen, was auch die Feuerwehrleute sahen: Einen Autofahrer, der mit Karacho unter einen parkenden Lastwagen gerauscht ist und nun tot ist, wie man nur tot sein kann. An Rettung war nicht zu denken. Für schwere Unfälle mit Todesfolge ist seit der Polizeireform der Verkehrsunfalldienst zuständig. Der sitzt nicht etwa in Waiblingen oder Esslingen oder Stuttgart, sondern an der A 6 bei Kirchberg an der Jagst. Das liegt weit hinter Schwäbisch Hall im fränkisch geprägten und landschaftlich sehr schönen Nordosten Baden-Württembergs. Man kann auch sagen: Es liegt verdammt weit ab vom Schuss.

Professionell – aber auch effektiv?

Wer die Zuständigkeit verstehen will, muss sich die Polizeireform in Erinnerung rufen. Im Jahr 2012 verkündete der damalige Innenminister Reinhold Gall (SPD), beim Puzzlespiel mit den Standorten der für die Autobahnen und das flache Land zuständigen Verkehrspolizeidirektionen so etwas wie den Stein des Weisen entdeckt zu haben. „Mit der Entscheidung wird der Grundstein für eine effektive und professionelle Verkehrssicherheitsarbeit gelegt“, betonte Gall. Der Streifendienst der Reviere werde durch den neuen Verkehrsunfalldienst von umfangreichen Ermittlungs- und Schreibarbeiten entlastet und könne sich auf seine eigentliche Aufgabe bei der Verkehrsüberwachung konzentrieren.

Professionell mag der Einsatz auf Unfallermittlungen spezialisierter Kräfte sein, ob er effektiv ist, darf jedoch bezweifelt werden. Ein schwerer Crash in Fellbach oder Kernen ist jedenfalls die ungünstigste Variante für einen Einsatz der Kirchberger Truppe. Laut Routenplaner sind selbst bei der kürzesten denkbaren Strecke stattliche 82 Kilometer zu überwinden, als durchschnittliche Reisedauer gibt das Programm eine Stunde und sechs Minuten an. Die Polizei schafft’s vielleicht auch ein paar Minuten schneller. Das gilt freilich nur, wenn die Kollegen vom Verkehrsunfalldienst beim Alarm gleich ins Auto hechten und nicht mit umfangreicher Ermittlungs- und Schreibarbeit beschäftigt sind.

Irgendwann haben sie eine Decke über das Auto gelegt

Bei der Feuerwehr in Kernen erzählt man sich, dass es bis weit nach Mitternacht dauerte, bis die Unfallermittler vor Ort waren. Zeit, in der das Adrenalin im Blut sinkt und das Nachdenken einsetzt. Zeit, in der sich das Bild vom Unfall eingebrannt hat im Kopf der Helfer. Verlorene Zeit. Irgendwann haben sie eine Decke über das Auto gelegt, damit sie den Toten nicht mehr sehen müssen. „Es geht ja nicht nur um uns Feuerwehrleute, die da stundenlang stehen müssen. Es gibt bei einem Unfall auch die Würde des Opfers“, sagt Andreas Wersch.

Beschlossen wurde die Polizeireform zwar unter grün-roter Regie, die massive Kritik am Verlust dezentraler Strukturen ist noch im Ohr. Doch auch der als Innenminister inzwischen für die Polizeiarbeit im Südwesten zuständige Thomas Strobl (CDU) hat an den seinerzeit festgezurrten Standorten nicht gerüttelt. Kernens Kommandant Andreas Wersch, für die Christdemokraten mit Sitz und Stimme in Gemeinderat und Kreistag vertreten, hält die Zeit allerdings durchaus für reif, sich ernsthaft Gedanken zu machen. „Wirklich schlimm wird es für uns Feuerwehrleute, wenn Angehörige des Opfers am Unfallort auftauchen. Die sind in manchen Fällen schneller als die Polizei“, sagt er.

Was das Innenministerium sagt

Man nehme die Kritik auf, sagt, mit den Vorwürfen konfrontiert, ein Sprecher des Innenministeriums. Zum konkreten Fall könne er sich allerdings nicht äußern, da dieser zunächst genauer geprüft werden müsse. Generell, erklärt er, sei es bei schweren Unfällen besonders wichtig, dass der Unfallhergang genau untersucht werde – schließlich gehe es dabei häufig auch um Schadensersatzansprüche und eventuelle Strafverfahren. Deshalb kämen die Spezialisten vom Verkehrsunfalldienst zum Einsatz, die etwa mit 3D-Messverfahren versuchten, möglichst präzise zu rekonstruieren, wie sich ein Unfall ereignet habe. Mit der Frage, wie sie früher am Einsatzort sein können, beschäftige sich momentan die Projektgruppe Polizeistruktur 2020 – und zwar unabhängig von dem konkreten Fall, so der Sprecher. Mit Ergebnissen sei noch in diesem Jahr zu rechnen.