Der britische Toursieger Christopher Froome kämpft gegen die Zweifel an seiner Person. Wer ist dieser Froome? Besser als die gedopten Ullrich und Armstrong? Ein Megatalent? Eine Analyse von StZ-Sportredakteur Tobias Schall.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Paris - Es ist schon einige Tage her, da saß Ralph Denk auf der Terrasse des Teamhotels von Bora-Argon 18 in Le Lauzet-Ubaye und sprach über dieses und jenes. Irgendwann im Laufe des Gesprächs ging es auch um Christopher Froome, weil es bei der Tour de France 2015 eben immer irgendwann um Christopher Froome ging.

 

Der Bora-Teamchef sagte dann: „Jan Ullrich war ein Talent, Lance Armstrong war ein Talent. Vielleicht ist Chris Froome ein Megatalent. Man weiß es ja nicht. Ullrich und Armstrong waren Jahrhundertmenschen, vielleicht ist Froome ein Jahrtausendmensch.“ Vielleicht. Man weiß es ja nicht. Vielleicht. Das war die Tonlage der Tour de France 2015. Das war bei den Rennen der Jahre davor schon so. Und diese ständige Unsicherheit wird auch die nächsten Austragungen bestimmen. Der Mangel an absoluten Gewissheiten, weil es irgendwann höchstens mal Beweise für Schuld, aber nie einen unumstößlichen Beweis für Unschuld geben wird. Das Vielleicht bleibt.

Was ist dieser Froome? Besser als die gedopten Ullrich und Armstrong? Ein Megatalent? Ein Jahrtausendmensch? Oder einfach nur der aktuell stärkste Rundfahrer, weil irgendeiner ja der Beste sein muss, auch wenn alle sauber sind?

Die DNA eines Champions

Vielleicht ist das alles echt, für das Gegenteil gibt es am Ende dieser 102. Tour de France mit dem zweiten Erfolg des Briten Christopher Froome nach 2013 keinen Beweis. Chris Froome ist ohne Zweifel ein besonderer Mensch. Wie alle Hochleistungssportler ist er vieles, aber nicht normal. Er hat ein Lungenvolumen von acht Litern, normal wären sechs, er ist 1,86 Meter und wiegt nur 67 Kilogramm, sein Maximalpuls liegt bei bemerkenswert niedrigen 165 Schlägen pro Minute. Der 30-Jährige hat die DNA eines Champions. Wie ein Usain Bolt, wie ein Michael Phelps.

Er war aber im Vergleich zu seinen Konkurrenten kein Übermensch. Er wirkte zwar lange unantastbar und überlegen. Alle Attacken prallten an ihm ab, die auf dem Rad ebenso wie die neben der Strecke. Er wurde brillant protegiert von seinem Team Sky, er fuhr taktisch perfekt in der ersten Woche, und in den Pyrenäen demonstrierte er seine Stärke. Aber er fuhr die Konkurrenz nicht in Grund und Boden. Er verlor Zeit auf den letzten beiden Alpenetappen, und wer weiß, ohne den treuen Helfer Richie Porte, der seinen Kapitän wie eine Lokomotive hinauf nach Alp d’Huez zog, als dieser es am nötigsten hatte, hätte dieser Samstag in den Alpen vielleicht ein anderes Ende für Froome genommen.

Am Ende blieben ihm 1:12 Minuten Vorsprung auf den erst 25-jährigen Nairo Quintana für die Tour d’Honneur nach Paris, auf welcher der Führende traditionell nicht mehr attackiert wird. „Es war ein Traum, die Tour einmal zu gewinnen“, sagt Froome: „Sie ein zweites Mal zu gewinnen ist mehr, als ich mir je vorstellen konnte.“ Der Kolumbianer Quintana hat die Tour wohl in der ersten Woche verloren, als er 1:59 Minuten Rückstand anhäufte. Das Glück eines fehlenden langen Einzelzeitfahrens, das den im Kampf gegen die Uhr deutlich stärkeren Froome bevorteilt hätte, war so schon aufgebraucht. „Der Sieger der Herzen“ sei Quintana aber, hieß es in seiner Heimat.

Beschimpft und bespuckt

Ein Sieger der Herzen war Froome nicht. Das liegt natürlich an seinem seit 2012 meist dominierenden Team Sky und an seiner Geschichte. Aufgewachsen ist er in der Radsportdiaspora Kenia, 2010 wurde bei ihm die Tropenkrankheit Bilharziose diagnostiziert. Bei der spanischen Vuelta 2011 fuhr er als Zweiter ins Rampenlicht, seither brilliert der Antistilist, der durch seinen ständig wippenden oder geneigten Kopf wie ein Wackeldackel auf Rädern wirkt, bei den Landesrundfahrten. Es ist ein wundersamer Aufstieg vom Exot zum besten Rundfahrer des Planeten, und mit wundersamen Aufstiegen hat dieser Sport eben selten gute Erfahrungen gemacht.

Christopher Froome hat harte Wochen hinter sich. Er wurde bespuckt, er wurde beschimpft, er wurde mit Urin beworfen, der Bus seines Rennstalls mit vollen Cola-Dosen malträtiert. Manches ist fraglos etwas außer Kontrolle geraten bei aller berechtigten kritischen Begleitung des Radsports. Froome hat das alles mit bemerkenswerter Würde und stets erstaunlich freundlich ertragen. Er ist keiner Frage aus dem Weg gegangen, so oft er auch die immer gleichen Zweifel hörte. Manch Vorgänger wurde patzig, Froome war immer ein Gentleman. „Das bringt das Gelbe Trikot mit sich“, sagt der 30-jährige Froome: „Ich weiß, dass ich nichts getan habe. Ich habe nichts getan, um diese Verdächtigungen zu verdienen. Ich nehme das nicht persönlich.“

Es hätte die anderen genauso getroffen. Quintana wurde vor der Tour von Vorjahressieger Vincenzo Nibali in Misskredit gebracht. Der Italiener hatte sich gefragt, wo eigentlich der Kolumbianer die ganze Zeit sei und warum der sich in der Abgeschiedenheit seiner Heimat vorbereite. Nibali, dieses Jahr Vierter, wiederum fährt für das umstrittene Astana-Team. Der Tourdritte Alejandro Valverde war wegen Verwicklungen in den Blutdopingskandal um Eufemiano Fuentes zwei Jahre wegen Dopings gesperrt, der Fünfte im Bunde, Alberto Contador, verlor seinen Toursieg 2010 wegen Dopings. Froome zog diesmal die Aufmerksamkeit auf sich und wirkte wie ein Blitzableiter für die anderen Topfahrer.

Kampf gegen die Zweifler

Der Mann in Gelb kämpft als Gesicht und Symbol der Branche immer gegen die Zweifel angesichts der wenig ruhmreichen Ahnengalerie der Rundfahrt mit kaum einem Sieger, der nicht gedopt war oder massiv verdächtigt wurde. Der Platz des Siegers ist der heiße Stuhl des Sports, ein Platz im Nacktscanner der Öffentlichkeit. Der Kampf um die Glaubwürdigkeit der Zunft wird stellvertretend auf seinem Rücken ausgefochten, auch wenn die Spitze möglicherweise kein repräsentativer Querschnitt mit großer Aussagekraft für den aktuellen Zustand des Radsports ist.

Christopher Froome wird durchleuchtet wie kein anderer, er wird analysiert und interpretiert, das Gesamtwerk C. F. in die Einzelteile zerlegt, um sich einen Eindruck vom Gesamtbild machen zu können. Es gab viele Vergleiche mit Lance Armstrong nach Froomes Gala in den Pyrenäen. „Das habe ich nicht verdient, weil wir heute wissen, wie diese Erfolge errungen wurden“, sagt Froome. Auch der Bora-Mann Ralph Denk sagt, dass all die Quervergleiche unfair seien: „Man betreibt heute viel mehr Aufwand. Das Material ist viel besser, die Trainingswissenschaft ist weiter, die Ernährung ist viel besser, der ganze Sport ist heute viel professioneller.“ Wenn Leistungen von heute denen von damals ähneln, dann könne „das der Grund sein“, sagt Denk. „Wichtig ist, das Kontrollsystem so engmaschig wie möglich zu machen, deshalb bin ich für Nachtkontrollen“, sagt Denk: „Der Radsport ist auf einem guten Weg.“

Greg LeMond, einer der wenigen unbelasteten früheren Toursieger und heute so etwas wie das Gewissen des Radsports, sagt, dass alles an vorhandenen Daten offengelegt werden müsse, um zu klären, ob „Froome wirklich der talentierteste Athlet ist, den es je im Radsport gab“.