Entsetzen, Trauer und Angst: Migranten fürchten, dass Neonazis hinter dem Mord von Neukölln stecken.

Berlin - Am Freitagmorgen reicht der Teppich aus Rosen auf dem Gehweg noch ein Stück weiter als in den vergangenen Tagen. Hunderte von Menschen waren am Vorabend wieder hier und haben Blumen abgelegt. Der Regen hat nach einer Woche den weißen Sand weggewaschen, den Polizisten über drei große Blutlachen gestreut hatten.

 

Genau dort lagen in der Nacht zum 5. April drei junge Männer, niedergestreckt von Schüssen. Burak B., 22 Jahre, angehender Kaufmann, starb auf dem Asphalt. Seine beiden Freunde, 16 und 17, rangen mit dem Tod. Sie liegen im Krankenhaus.

Was um 1.15 Uhr in der Rudower Straße in Berlin-Neukölln passierte, hat die Polizei inzwischen rekonstruiert: Eine Gruppe von fünf Migranten stand auf dem Trottoir, sie unterhielten sich. Unbemerkt trat ein Fremder heran. Er zog eine Waffe und schoss in die Gruppe. Der Mann war sehr schnell weg. Anwohner schraken auf und liefen auf die Straße. Notärzte knieten vor den Verletzten. Menschen schrien, versuchten zu begreifen, was geschehen war. Das tun hier alle seitdem.

War es Terrror von rechts

„Warum?“ Die Frage steht auf einem Zettel an einem Laternenmast, dazu ein Foto von Burak, lächelnd. Es gibt keine Spur, keine Antwort auf die Frage nach dem Motiv. Alles wäre möglich, ein Streit, eine Fehde, der Ausraster eines Verrückten, ein Zufall – oder Terror von rechts.

Tödliche Schüsse, nach ihrer Herkunft ausgewählte Opfer, spurlos verschwundene Täter – das gleicht der Handschrift, die der Zwickauer Zelle zugeschrieben wird. Und in Neukölln erinnern sich die Menschen gut daran, dass auch in diesen Fällen lang niemand an Neonazis als Täter dachte.

„Es gibt eigentlich niemanden, der diese Sorge nicht hat“, sagt ein junger Mann namens Hakan am Freitagmittag vor der Sehitlik-Moschee in Neukölln. „Auch wenn bis jetzt niemand weiß, was dahintersteckt, und dass es alles Mögliche sein kann.“

Mehr als 2000 Menschen haben sich versammelt. Viele junge Leute sind darunter, Mädchen, die schnell ihr Haar mit ihrem Schal verdecken, junge Männer, die eine rote Baseballkappe tragen, so wie Burak B. sie liebte. Er wird am Freitag beigesetzt. Berlin sei die Heimat seines Sohnes, hat sein Vater gesagt. Burak ist hier geboren. Dicht gedrängt stehen die Trauernden im Innenhof des Gotteshauses, viele haben ein Foto des Toten an ihre Brust geheftet. Die Imame treten auf die Freitreppe, vor ihnen steht der Sarg. Frauen legen ihre Hände auf das grüne Grabtuch. „Wir leben schon so lange hier“, sagt eine. „Wie kann das sein?“

Auf die Moschee gab es einen Anschlag

So wie schon die ganze Woche auf dem Gehweg von Neukölln, so sammeln sich heute die Emotionen: Trauer, Wut, Angst. Ender Cetin, der Vorsitzende der Gemeinde, sagt: „Es sind nicht nur die Parallelen des Tathergangs, die die Menschen erschrecken, es ist auch die Zeitnähe zu dem, was wir hier erleben.“ Auf die Moschee gab es am Ostersonntag einen Anschlag. Die Täter warfen rote Farbeier auf das Gebäude und klebten ein Bild an den Zaun. „Frohe Ostern“ steht da, ein blutiges Schwein war zu sehen. Erst im März hatte die Gemeinde, so wie andere muslimische und jüdische Institutionen, einen Drohbrief erhalten. Ausländer werden aufgefordert, bis zum 1. August das Land zu verlassen, andernfalls werden sie mit dem Tod bedroht, durch Erschießen. Unterzeichnet ist das Schreiben von einer Gruppe, die sich „Reichsbewegung“ nennt.

Die Polizei weiß all das, und sie ermittelt in jede Richtung. Die Spurenlage ist dünn, die Personenbeschreibung schlecht. Fortschritte? „Wir haben nichts“, heißt es. Die Staatsanwaltschaft hat eine Belohnung ausgesetzt. Der Druck ist hoch, denn die Situation könnte politisch auch eskalieren.

Demo der Antifaschisten ist angekündigt

Für den Abend haben antifaschistische Initiativen schon lange vor dem Mord eine Demonstration angemeldet – Neukölln ist neuerdings öfter Schauplatz für Angriffe und Drohungen von Neonazis. Zu deren Strategie gehört auch eine nach dem Mord kurzfristig angesagte und dann von der Polizei verlegte Demonstration der NPD gegen Ausländer. Wären die Rechtsextremisten am Tatort aufgetaucht, man hätte sich die Reaktion nicht ausmalen wollen. Am Nachmittag vor der Moschee trifft man nur auf friedliche Menschen. Zorn ist kaum zu spüren. „Ich glaube, die meisten haben das Gefühl, dass die Behörden sehr genau hinsehen“, sagt Ender Cetin. „Und wir erhalten Solidarität aus der Gesellschaft, was wichtig ist.“

Hakan, 36 Jahre alt, gebürtiger Berliner, musste seinem neunjährigen Sohn am Freitagmorgen eine Frage beantworten. „Er wollte wissen, warum es Leute gibt, die uns hier nicht wollen.“ Der Vater musste nachdenken. „Ich habe ihm gesagt, dass ich das auch nicht weiß und dass ich fest daran glaube, dass es nur ganz wenige sind.“