Keine süße Versuchung, kein ordinärer Spritz: Das Getränk des Sommers ist eine herbe Herausforderung. Eine Ode an den Klassiker der italienischen Aperitif-Kultur.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Das Sommergetränk ist ein mystisch aufgeladener Begleiter der schönsten Zeit des Jahres. Wenn sich Stuttgart dank seiner geografischen Gegebenheiten in einen Kessel Buntes mit der Luftqualität von Mexiko City verwandelt, braucht es einen verlässlichen Begleiter, der einen elegant durch die Abendstunden bringt. Wohl deshalb wird selbst jeder trinkunverdächtige Kollege hellhörig, wenn es darum geht, einen adäquaten Nachfolger für den Caipirinha, den flüssigen Soundtrack der 90er Jahre, den Aperol Spritz, den man heute nur noch ungestraft in Szene-bars zwischen Donzdorf und Freudenstadt bestellen darf und den nie so wirklich anerkannten Hugo zu finden.

 

Die Stuttgarter Zeitung liefert wie so oft praktische Lebenshilfe für das Überleben des Sahara-Sommers 2015. Wirklich lässig kommt man durch die blaue Stunde zwischen Marienplatz, kleinem Schlossplatz und der Calwer Passage mit einem Negroni in der Hand.

Gut Drink will manchmal Weile haben

Vielflieger, Weitgereiste und sonstige Connaisseure werden nun gelangweilt gähnen, weil sie den Negroni seit Jahren als Reminiszenz an den letzten Florenz-Urlaub mit einer Träne im Knopfloch an der heimischen Bar schlürfen. Gut Drink will eben manchmal Weile haben, denn erst jetzt erobert die herbe Herausforderung auch hiesige Bars im Sturm. Ob in der bezaubernden Bar Tatti, dem norditalienischsten Außenposten Stuttgarts am Eingang der Calwer Passage, oder am Marienplatz, der in Geschmacksfragen ohnehin mittlerweile über jeden Zweifel erhaben ist: Der Negroni wird an verschiedenen Stellen in Stuttgart mit Stil zelebriert.

Einer der Botschafter dieser rassigen Mischung aus Gin, Campari und rotem Wermut in Stuttgart ist Paul Benjamin Scheibe. Die Eltern des Gastronomen sind vor Jahren in das Dorf Tatti in der Toskana ausgewandert. Die Bar am Eingang zum Fluxus, die Scheibe gemeinsam mit Marcus Philipp betreibt, hat er nach seinem Sehnsuchtsort benannt. „Der Negroni erinnert mich an Urlaub in Norditalien. Er ist schön bitter, öffnet den Magen und ist der ideale Begleiter durch die Nacht“, sagt Scheibe. Der schwäbische Fuchs hat den Negroni in einer wunderschönen riesigen Karaffe bereits vorgemixt, sodass das Barpersonal an der Tankstelle des guten Geschmacks nur noch zapfen muss. Eine weitere unersetzliche Zutat der norditalienischen Geschmacksexplosion im Glas: „Der Negroni schmeckt ganz besonders lecker mit den fair gehandelten Orangen von Pois, die hier im Fluxus einen Laden betreiben. Eine breite Zeste einmal am Glasrand entlang gezogen sorgt für den fruchtig-öligen Extrakick“, so Scheibe. Als Wermut empfiehlt Scheibe übrigens nicht den Klassiker Martini Rosso, sondern den Belsazar Red. Der stammt vom Kaiserstuhl und sorgt für badisch-schwäbische Völkerverständigung im norditalienischen Drink.

Der Condesa-Negroni ist milder als das Original

Laut Paul Benjamin Scheibe steht der Negroni stellvertretend für den Bitter-Trend des Jahres 2015. „San Bitter und andere antialkoholische Durstlöscher werden wieder vermehrt bestellt. Wir mixen den San Bitter zum Beispiel mit Orangensaft, das ergibt einen herrlichen alkoholfreien Start in den Abend.“

Nicht nur im Tatti wird der Negroni zelebriert, auch im Condesa am Marienplatz findet sich der Negroni vorgemixt hinter dem Tresen. Dawit Porwich hat den Klassiker der Aperitif-Kultur prominent ins Condesa-Programm aufgenommen „Der Negroni hat in meinen Augen viel mehr Stil als zum Beispiel ein Spritz“, so Porwich. Für besonders heiße Sommerabende ersetzt Porwich den Campari durch Aperol. „Der so genannte Condesa-Negroni ist ein wenig milder“, erklärt er.

Erstmals gibt es einen Gin aus Stuttgart

Stoff Büttner hält sich lieber ans Original und schmilzt angesichts des Drei-Komponenten-Drinks vor dem Condesa dahin wie das eisige Schmelzwasser im Glas. Büttner ist eine Stuttgarter Marke auf zwei Beinen: Der Hörgeräteakustiker betreibt den Sushi-Lieferservice I love Sushi im Stuttgarter Westen, ist Teil des Stuttgarter Künstler-Konglomerats Brightzeit und hat überdies soeben den ersten Gin aus Stuttgart auf den Markt gebracht. Das Applaus getaufte Getränk ist die ideale Negroni-Zutat für Lokalpatrioten, kann aber auch pur oder in einem klassischen Gin Tonic wunderbar genossen werden. Der Gin verfügt über eine erstaunlich dominante Zimt-Note und ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee. „Ich veranstalte seit Jahren eine Selbstständigenweihnachtsfeier, weil ich es so schade finde, dass nur Festangestellte in den Genuss einer Weihnachtsparty kommen“, erklärt Büttner. Bei der letzten Selbstständigenweihnachtsfeier haben Büttner und seine Mitstreiter Daniel Hammer und Frederik Dulay-Winkler beschlossen, ein schönes Geschenk für ihre Kunden zu produzieren. „Erst wollten wir Olivenöl machen, am Ende eines langen Abends erschien uns Gin aber als die bessere Alternative“, so Büttner. Nachdem der Gin eigentlich nur für Kunden gedacht war, werden Büttner und seine Mitstreiter von Bestellungen nun überrannt. Für den Vertrieb und die Vermarktung des Gins hat sich das Team ganz bescheiden „Süddeutsche Spirituosen Loge“ getauft. Gebrannt wird Applaus von Hans-Otto Frey, der sich auf Edelbrände spezialisiert hat.

Zurück zum Protagonisten dieser Geschichte, zum Stuttgarter Sommerdrink 2015. Vom lieblich roten Aussehen des Negroni darf man sich nicht blenden lassen. Der Teufelsdrink macht schockverliebt und sollte nur in Maßen konsumiert werden. Oder gleich in seiner abgeschwächten Form, dem Americano. In diesem Fall wird der Gin durch Soda ersetzt. Der Legende nach war dem Grafen Negroni der Americano aber nicht stark genug, also bestand er auf den Seelenheiler Gin als weitere Zutat. So wurde der kraftstrotzende Drink einst in Florenz geboren.

Der Drink, mit dem in diesem heißen Sommer wirklich jedes aufregende Abenteuer in Stuttgart beginnen sollte.