Milchalternative, vegane Siegeszüge, digitaler Besitz mit Risiko, Politisierung im Netz, Plastikersatz, Diversität als Gewinn – ist das die Zukunft? Wir haben Stuttgarter Influencer-Experten zu den Trends des Jahres 2022 befragt.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Die Coronakrise hat die Bedeutung von TikTok, Instagram, Facebook & Co noch weiter verstärkt. Die Nutzerzahlen der digitalen Plattformen erreichen neue Rekordhöhen. „Marken haben immer bessere Möglichkeiten, sich in den sozialen Medien zu positionieren“, sagt Constantin Schiller, der mit Pascal Hof die Agentur Schillerhof für Influencer Marketing in Stuttgart betreibt und zu den Gewinnern der Pandemie zählt. Zwar ist bei den beiden das Geschäftsfeld, Influencer-Events etwa zur Präsentationen neuer Automodelle zu organisieren, weggebrochen, doch gleichzeitig verlagern sich die Budgets ihrer Kunden auf neue digitale Angebote.

 

Unter anderem hat das Kreativbüro für die baden-württembergische Landesregierung bei der neuen Ländes-Kampagne den Social-Media-Content produziert. Wir haben die beiden Influencer-Experten sowie ihren Kollegen Manuel Ellwanger, Geschäftsführer der Innovation Heroes, zu den Trends von 2022 befragt.

„In den sozialen Medien lernt man seine Freunde neu kennen“

Die Netzwelt wird politischer, lautet die erste Prognose von Schiller und Hof. Der Trend gehe weg von den selbstverliebten Posts, bei denen sich viele mit Fotoapps bis zur Unkenntlichkeit verjüngen oder mit ihrem Essen angeben, stattdessen beschäftigten sich immer mehr mit wirklich wichtigen Dingen, nicht mit Oberflächlichkeiten.

Das Klima, Gesundheit, Diversität, Gendern, Umweltschutz, digital geschützte Besitztümer, Plastikersatz, Werte und Moral – dies sind aus Sicht von Schillerhof weitere Themen im neuen Jahr. „In den sozialen Medien lernt man seine Freunde oder die, die man dafür hielt, neu kennen“, sagt Hof, „es wird einem dabei klar, mit wem man einer Meinung ist. Und auch, mit wem eben nicht.“

Comeback der kreativen Runden im realen Leben

Die Agentur Schillerhof empfiehlt seinen Kunden, klare Kante zu zeigen. Wahlen, sagen die Social-Media-Experten, voraus, werden immer klarer im Netz gewonnen. Eine weitere Entwicklung, die sich abzeichne, sei die „Positionierung von Marken zu gesellschaftlichen und politischen Themen wie der Gender-Debatte, Nachhaltigkeit oder Impfen“. Das Prinzip des Greenwashing werde auf andere Themenfelder ausgeweitet: „Populäre Meinungen zu gesellschaftsrelevanten Themen werden wirkungsvoll zu Marketingzwecken in die Kommunikation mit aufgenommen.“

Nach der langen Zeit des sich Abschottens daheim erwarten Schiller und Hof ein Comeback kreativer Runden im realen Leben. „Die Sehnsucht, sich bei einem analogen Treffen auszutauschen, gemeinsam rumzuspinnen, wird immer stärker“, erwartet die beiden. Für die Kreativität sei dies enorm wichtig. Videokonferenzen seien nur ein schwacher Ersatz. Dennoch werde man die Vorteile des Homeoffice, etwa den Alltag besser mit der Arbeit vereinbaren zu können, auch in Zukunft nutzen. „Man wird das Beste aus beiden Welten übernehmen“, sagen sie.

Diversität wird zur Normalität

Die Vielfalt wird Mainstream, wie Schiller und Hof erwarten. Gendern sei bald keine Streitfall mehr. „Die Jüngeren machen es einfach, ohne sich Gedanken zu machen.“ Toxische Männlichkeit wird wohl was fürs Museum. Die Zukunft könnte so aussehen: Die tradierten Geschlechterrollen verlieren an gesellschaftlicher Bedeutung. Diversität wird als Normalität erkannt, also als Gewinn.

Auch das Thema Gesundheit könnte zum Trend von 2022 werden. Der Ernährungsstil, etwa die Verwendung von Milchersatz wie Haferdrinks, zeige, wie wichtig beim Essen und Trinken für immer mehr Menschen Moral und Werte sind. Pflanzliche Alternativen werden nicht nur als gut für die eigene Gesundheit wahrgenommen, sondern auch für die Umwelt und für das gesamte Klima.

„Man denkt auch wieder stärker an sich“

Nach dem Erfolg des Städteurlaubs in Deutschland erwarten die Influencer einen erneuten Boom bei Fernreisen. „Zwar steht Fliegen gegen das Klima“, sagt Schiller, „aber nach der harten Zeit in der Pandemie denkt man wieder stärker an sich selbst.“

Wer selbst nicht bis ans andere Ende der Welt fliegen kann, kann sich vielleicht neue digitale Freiheiten leisten. Der NFT-Hype, erwartet Schillerhof, nimmt noch an Schärfe zu und vermischt sich stärker als bisher mit dem analogen Leben. NFT bedeutet „Non-Fungible Token“. Dabei geht es, wörtlich übersetzt, um ein „nicht-austauschbares Objekt“, um digitale Anteile an ganz unterschiedlichen Besitztümern.

Was wird aus dem Hype um NFT?

Im Internet bezeichnet das Kürzel NFT ein „einzigartiges digitales Kennzeichen“, ein Eigentums- und Echtheitszertifikat also, das nicht ersetzbar und kopierbar ist. Menschen, die nicht zu den ganz Reichen gehören, können auf diese Weise Mini-Anteile an Kunstwerken, Videos, Immobilien, Yachten, sogar an Sneakers erwerben. Der Markt für NFT setzt sich nach Meinung der Influencer immer weiter durch. „Gerade in der andauernden Niedrigzinsphase suchen Kleinanleger Investments mit geringen Mindestzeichnungssummen“, beobachtet Manuel Ellwanger, ein NFT-Experte, der das Thema im Herbst bei einer digitalen Messe in Stuttgart einbringen will. Dank NFT lasse sich das zur Verfügung stehende Geld besser streuen, sagt der Geschäftsführer der Agentur Innovation Heroes: „Man kann relativ geringe Summen für digitale Anteile investieren, was besonders junge Anlieger anlockt.“ Jeder könne NFTs erstellen, Sammler wie Anleger, auf virtuellen Marktplätzen anbieten oder verkaufen. Ellwanger warnt: „Das Risiko bei NFT ist sehr groß, man kauft oft die Katze im Sack – es ist ein Risiko bis zum Totalverlust.“ Denn Token-Anleger würden bei einer Insolvenz „nachrangig behandelt“.

2022 – das neue Jahr wird noch viele Überraschungen bringen. Die Zukunft kommt meist schneller, als uns lieb ist.