Ein Abgesang auf die Zivilisation, tierische Psychopathen und ein orientalisches Drama: Das Stuttgarter Trickfilmfestival hat gleich zum Auftakt gezeigt, wie viele Facetten die besondere Magie der Animation hat.

Stuttgart - Wenn die Gottesanbeterin in der Gruppentherapiesitzung über ihre Beziehungsprobleme spricht und dabei zur Sprache kommt, dass sie ihre Partner nach dem Sex immer verspeist, klingt das keineswegs nach Biologieunterricht – sondern auf satirische Weise sehr menschlich. Der kleine Vogel, der den kleinen Bruder auf dem Gewissen zu haben glaubt, weil er einst ein Ei aus dem Nest warf, der Therapeut in Gestalt eines Hundes, der nicht aus seiner Haut kann, wenn jemand ein Stöckchen wirft, der Gorilla, der glaubt, kein Choleriker zu sein, ehe er die ganze Sitzung zerlegt – all diese Charaktere stammen mitten aus dem richtigen Leben.

 

„Animal Behaviour“ haben die kanadischen Animationskünstler David Fine und Alison Snowden ihren Kurzfilm genannt, der am Dienstag herausstach aus dem Eröffnungsprogramm des Stuttgarter Trickfilm-Festivals – weil er menschliche Makel mit Humor nimmt. Das Gloria 1 war wie gewohnt restlos ausgebucht, die Übertragung ins Gloria 2 ebenso. Im Mittelpunkt stand diesmal gleich ein ganzer Kontinent.

Gemeinsam den ganz großen Fisch fangen

Der künstlerische Festivalleiter Ulrich Wegenast trug ein blaues T-Shirt mit gelben Sternen, die Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, die Französin und Wahl-Schwäbin Evelyne Gebhardt, hielt ein Plädoyer für friedliche europäische Vielfalt, die sich in den Trickfilmen spiegele, und Landes-Europaminister Guido Wolf erklärte: „Wenn der Brexit ein Gutes hatte, dann, dass die Leute spüren: Europa ist nicht selbstverständlich, man muss darum kämpfen.“

Sein Ministerium hat den Wettbewerb Trickfilm für Europa ausgeschrieben, und die erste Preisträgerin hat gleich eine „Ode“ gedreht: Eine hungrige Möwe bringt drei einsame Angler auf offener See dazu, ihre kleinen Flöße zu vereinen – natürlich europaförmig – und gemeinsam den ganz großen Fisch zu fangen. „Als ich von der Ausschreibung gehört habe, ist mir eine deutsche Redensart eingefallen“, sagt die Regisseurin Shadi Adib, die vor fünf Jahren aus dem Iran an die Ludwigsburger Filmakademie gekommen ist: „Wir sitzen alle in einem Boot.“

Hieronymus Bosch lässt grüßen

Im Internationalen Wettbewerb hinterlässt „My Generation“ Eindruck, eine düstere Offenbarung in 3-D-Computer-Animation. Rückwärts gleitend geht es durch stetig wechselnde, monumentale Kulissen wie in einem Themenpark: Bildende Kunst, Überwachung, Sportvermarktung, religiöser Eifer, Pornografie, Politik und die Banken wirken hier wie eine apokalyptische Hieronymus-Bosch-Version dessen, was tagtäglich die globale Agenda bestimmt beim Wischen über die Smartphones.

Der französische Trickfilmer Ludovic Houplain war 2009 schon an dem Kurzfilm „Logorama“ beteiligt, einem Oscar-prämierten Katastrophenszenario in einem Los Angeles, das nur aus Markenlogos bestand. Nun hat er den Bogen noch weiter gespannt: Andy Warhols Suppendosen, Olympia, die Simpsons, Penisverlängerungen und die Börse verschwimmen in „My Generation“ zu einem einzigen Manipulationsbrei. Anfangs liegen Reden Adolf Hitlers darunter, dann eine Diskussion mit Donald Trump darüber, ob er Anhänger der „White Supremacy“-Bewegung („Weiße Vorherrschaft“) unterstützt hat – und schließlich, als alles in Flammen aufgeht, der philosophische Appell, sich ausschließlich an die Fakten zu halten und die Nächstenliebe ernstzunehmen.

Die gepackten Koffer fliegen aus auf der Suche nach Refugien

Erinnerung, Hilfeschrei und Hoffnung in einem ist „Four Acts for Syria“, eine Reise der syrischen Animationsfilmer Waref Abu Quba und Kevork Mourad durch Vergangenheit und Gegenwart ihrer Heimat: Arabische Schriftzeichen, orientalisch anmutende Städte in schlichter 2-D-Schichtung, weiblicher Gesang und ein ernst vorgetragenes, blumiges Gedicht berühren spätestens dann, wenn der Krieg wütet und die gepackten Koffer ausfliegen auf der Suche nach Refugien. Ein Preis der Bosch-Stiftung hat den symbolgeladenen Film mitfinanziert, an dessen Ende nicht Verzweiflung steht, sondern der Traum vom Wiederaufbau.

Schön koloriert und dynamisch in die Wellen gelegt ist die Geschichte eines alten englischen Seglers um 1900, den die stetig größer werdenden Motorfrachter überflüssig gemacht haben und der durch ein naseweises Mädchen zurückfindet ins Leben. Da werden Seemannslieder gesungen, da wird der glorreichen Vergangenheit gedacht und ein Umbruch betrauert, der damals ähnlich drastisch gewesen sein mag wie jener durch die Digitalisierung – zumindest für die einstige britische Seemacht, an der ein ganzes Empire hing. Der Regisseur John Kahrs allerdings ist US-Amerikaner und als Animator eine große Nummer, er war an Pixar/Disney-Produktionen wie „Die Unglaublichen“ und „Ralph reicht’s“ beteiligt – und zeigt hier, dass er nicht auf deren Ästhetik festgelegt ist, sondern eine sehr eigene künstlerische Handschrift zu bieten hat.

Das gilt für so gut wie alle Teilnehmer an den Stuttgarter Wettbewerben und macht die besondere Magie des Trickfilm-Festivals aus: Wer sich auf die sehr eigenen künstlerischen Standpunkte einlässt, kann die Welt mit ganz anderen Augen sehen.