Der Hirnforscher Nikos Logothetis hat in Tübingen jahrzehntelang Versuche mit Affen gemacht – bis er ins Visier von radikalen Tierschützern geriet. Jetzt geht er mit seinem Team nach China, wo ihm ein eigener Campus gebaut wird.

Tübingen - Einer der berühmtesten Hirnforscher Deutschlands wandert nach Shanghai ab. Nikos Logothetis, Direktor am Tübinger Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, ist es leid, wegen Tierversuchen attackiert zu werden.

 

Herr Logothetis, Sie haben Morddrohungen erhalten, Sie wurden als Naziarzt verunglimpft, Ihr Institut wurde von Tierversuchsgegnern belagert. Fliehen Sie aus Deutschland?

Nein, trotz aller Anfeindungen fühle ich mich in Tübingen zu Hause, ich habe inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft. Mit 69 Jahren in Shanghai neu anzufangen ist nicht einfach. Wenn ich die Unterstützung des akademischen Systems gehabt hätte, wäre ich nie auf die Idee gekommen wegzuziehen. Aber das Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft hat mich hängen lassen, anstatt mir als Forscher den Rücken zu stärken. Das war ein großer Vertrauensbruch.

Wie hat sich Ihr Leben verändert, seit die heimlich gefilmten Aufnahmen mit frisch operierten Affen 2014 auf „Stern TV“ veröffentlicht wurden?

Anfangs habe ich das nicht ernst genommen, ich war naiv. Ich wusste, dass die Standards für Tierhaltung in meinem Labor vorbildlich sind. Der Leiter des Instituts für Neurowissenschaften an der Stanford University nannte unser Zentrum das Tadsch Mahal der Primatenforschung. Doch dann ging der Terror los.

Was passierte?

Ich wurde ständig beleidigt und bedroht, hatte eineinhalb Jahre lang Personenschutz. Selbst beim Friseur wurde mir gesagt, ich sei ein Krimineller und solle wieder gehen. Ich arbeite zwölf Stunden und mehr am Tag und wohne neben dem Institut. Aktivisten belagerten das Gartentor. Mein zwölfjähriger Sohn verstand nicht, was die Leute da wollten. Das Schlimmste war, dass ich vergeblich versucht habe, die Verwaltung der Max-Planck-Gesellschaft davon zu überzeugen, dass nichts dran ist an dem angeblichen Skandal. Doch die ignorierten mich. Anfangs hieß es, die Tierversuchsgegner werden angezeigt, aber davon war bald nicht mehr die Rede.

Gegen Sie wurde ein Strafverfahren wegen Tierquälerei eröffnet. Der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann, sprach von „Anzeichen von Fehlentwicklungen“ und distanzierte sich von Ihnen. Was haben Sie falsch gemacht?

Ich habe absolut nichts falsch gemacht. Das Strafverfahren wurde wieder eingestellt, die Vorwürfe lösten sich in Luft auf. Der Filmbeitrag war verfälschend, 100 Stunden sind auf wenige Minuten zusammengeschnitten worden. Ein Affe hat sich nach einer Operation erbrochen, das kann vorkommen. Ich habe gesagt, stellt das ganze Material online, und ich bin rehabilitiert. Aber das Gegenteil war der Fall: Mir wurde die Leitungsfunktion des Instituts entzogen, ich musste die Tierversuche vorübergehend beenden.

Wie war die Situation in den 90er Jahren, als Sie anfingen, an Affen zu forschen?

Es gab Missstände, die Tiere saßen ohne Auslauf in kleinen Einzelkäfigen, sie wurden neurotisch. Operiert wurde im Labor. Ich war damals im Fachbeirat des Deutschen Primatenzentrums in Göttingen und konnte dazu beitragen, dass die Standards verbessert wurden. Gruppenhaltung löste die Minikäfige ab, es wurden eigene Operationsräume eingeführt, wie sie in der Humanmedizin üblich sind.

Sie haben 2015 entschieden, nicht mehr mit Primaten zu arbeiten. Zwei Jahre später gab es zuletzt Versuche mit Rhesusaffen an Ihrem Institut. Waren Sie den Kampf leid?

Das war ein Signal an die Max-Planck-Gesellschaft, die mich links liegen gelassen hat. Mein größter Wunsch ist es, weiterhin mit Affen zu arbeiten. Ich will das mein ganzes Leben lang machen.

Ihre Forschung hilft zu verstehen, warum Depressionen oder Demenzen entstehen. Sie sind in Ihrer Arbeit ausgebremst worden. Mit welchen Folgen?

Wir wissen halbwegs, wie das Gehirn funktioniert, wie Neuronen in Mikroschaltungen kommunizieren. Wir kennen auch die Spezialisierung der verschiedenen Areale der Hirnrinde, es gibt Hirngebiete für das Gedächtnis, das Sehen, das Hören. Aber bei Netzwerken kennen wir uns null aus. Selbst einfache Prozesse wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis sind so kompliziert, dass wir trotz jahrzehntelanger Forschung nicht entschlüsselt haben, wie sie wirklich funktionieren. Wir wollten etwas weltweit Einzigartiges machen: Wir wollten sichtbar machen, wie das Gehirn arbeitet. Ziel war es, neuronale Aktivitäten mithilfe der Kernspintomografie aufzuzeigen – um zu sehen, was bei einem Menschen mit Schizophrenie oder Parkinson nicht funktioniert.

Kommt in Deutschland die Grundlagenforschung zu kurz?

Jahrelang war Deutschland eines der weltweit wichtigsten Länder für Grundlagenforschung. Was jetzt gemacht wird, ist eine Katastrophe. Dem Neurobiologen Andreas Kreiter an der Universität Bremen wurde die Forschung systematisch erschwert, es gab Rechtsstreitigkeiten bis zum Bundesverwaltungsgericht, das bestätigt hat, dass seine Versuchsvorhaben eine hohe wissenschaftliche Bedeutung haben. Es braucht noch viel Grundlagenforschung, um ein komplexes System wie das menschliche Gehirn mit seinen Milliarden Nervenzellen zu verstehen.

Jeder Tierversuch birgt ein ethisches Dilemma. Geht es in der Hirnforschung auch ohne Versuchen an Affen?

Ganz klar: nein. Weder Mäuse noch Katzen haben mit dem Menschen vergleichbare Gehirne, es müssen Affen sein. Wir Menschen werden immer älter – mit den gleichen Nervenzellen. Die Regeneration im zentralen Nervensystem im Gehirn ist minimal. Der Verlust von Netzwerken wird kommen und damit eine steigende Zahl an Demenzerkrankten und Parkinsonpatienten. Zeigen Sie mir den Tierversuchsgegner, der dann auf ein hilfreiches Medikament verzichtet.

Wie lässt sich der wissenschaftliche Nutzen von Tierversuchen transparenter machen?

Es gibt schon die ultimative Transparenz. Das Institut für biologische Kybernetik war immer eines mit offenen Türen.

Was bietet Ihnen Shanghai?

Dort wird ein riesiger Campus für Primatenforschung aufgebaut, das International Center for Primate Brain Research. Ich werde mit 25 Leuten aus meinem Team dort anfangen. Und mache, was ich bisher gemacht habe, nur in viel größerem Stil. Als Direktor leite ich 50 Forschungslabore, die jeweils einen Professor an der Spitze haben. Die Versuchstiere sind genmanipulierte Affen. Auch das Klonen ist in China erlaubt und bietet neue Möglichkeiten, um etwa herauszufinden, wie wir Alzheimer besser behandeln können. Ich habe damit keine ethischen Probleme.

Welche Mittel werden Sie zur Verfügung haben?

So viel, wie ich benötige. Bis vor fünf Jahren war das auch in Tübingen so, ich hatte alle Freiheiten der Welt – und dann kam der Fernsehbericht.

Wie werden die Haltungsstandards sein?

Genauso wie in Deutschland, darauf lege ich Wert. Am Campus wird an rund 6000 Affen geforscht, in meinem Bereich werden es 600 Tiere sein.

Wären Sie nicht sowieso Ende 2022 in den Ruhestand gegangen? Sie sind 69 Jahre alt und haben Ihren Vertrag bereits verlängert.

Ich hätte als Emeritus weitergemacht, bis ich umfalle. Das war mein Plan.

Wann steht der Abschied an?

Es geht im Februar oder März los. Es fällt mir schwer zu gehen. Aber ich habe Herzprobleme und eine Depression bekommen, zeitweise konnte ich nur noch drei Stunden schlafen. Ich dachte, ich werde verrückt. Ein Antidepressivum hat geholfen. Ich hoffe, bald wieder normal arbeiten zu können. Als Forscher gelte ich hier als Krimineller, überall ist mein Bild veröffentlicht worden. In Shanghai wird mich keiner mehr schräg anschauen.